Herzbesetzer (German Edition)
Wochen Ausnahmezustand. Anoki ist sich hundertprozentig sicher, dass ich es kaum abwarten kann, bis er sich wieder bei mir einquartiert und mich aus meinem langweiligen, ereignislosen Alltag reißt. Er glaubt, ich brenne darauf, Abend für Abend mit ihm durch Kinos, Clubs und Kneipen zu ziehen und nach ein paar Minuten Schlaf mit geschwollenen Augen zur Arbeit zu kriechen. Er nimmt an, ich kann mir nichts Herrlicheres vorstellen, als vier Mal die Woche einen bis zum Rand gefüllten Einkaufswagen an der Supermarktkasse vorzufahren, dessen Inhalt kaum bis zum Parkplatz reicht. Und er ist überzeugt, dass ich ihm mit flammender Begeisterung in sämtliche Klamotten-, Skater-, Sport-, CD- und sonstigen angesagten Läden Berlins folge, dort mit hingebungsvoller Geduld warte, bis er sich ausgiebig über das Sortiment informiert hat, und ihm am Ende entzückt jeden einzelnen unbescheidenen Wunsch mit meiner Kreditkarte erfülle.
Ich hab Anoki wirklich sehr, sehr lieb. Ich mag ihn mehr als irgendjemanden sonst, den ich kenne. Ich finde ihn süß, ich fahre auf ihn ab, ich möchte ihn glücklich sehen, ich würde nahezu alles für ihn tun. Aber sechs Wochen mit ihm in meiner engen Wohnung leben, sechs Wochen, in denen ich arbeiten muss und er alle Zeit der Welt hat, sechs Wochen mein Bett mit ihm teilen, ohne dreimal täglich über ihn herfallen zu dürfen, sechs Wochen lang so viel Geld ausgeben wie sonst in sechs Monaten? Ich weiß nicht. So sehr kann man einen Menschen doch gar nicht lieben. Oder?
»Hör mal, du hast doch auch mal Urlaub, oder halten die dich da als Sklaven?«, sagt Anoki unbekümmert. »Nimm dir doch einfach ’n paar Wochen frei. Wir können ja auch verreisen! Ey, was meinst du: drei Wochen Karibik? Oder New York, da würd ich gern mal hin. Oder lieber London? Vielleicht beides. Australien wär auch geil, so mit Rucksack durch die Wüste!«
Ich stelle mir vor, mit Anoki in einem Zelt mitten im Outback zu übernachten, nur der Sternenhimmel über uns. Weglaufen kann er mir da nicht …
»Vergiss es«, sage ich energisch, mehr zu mir selbst als zu ihm, aber er fängt sofort an zu schmollen.
»Pah, dann eben nicht. Du würdest wahrscheinlich lieber ’ne Busreise in ’n Schwarzwald machen, was?«
Ich habe mich wieder gefangen und fange an zu lachen. Anoki verzieht das Gesicht und schweigt fast vier Sekunden beleidigt, dann hängt er sich an meine Schulter, lächelt mich umwerfend an und sagt: »Dann schlag du doch mal was vor!«
Als hätten wir uns längst darauf geeinigt, dass wir gemeinsam in Urlaub fahren, und es sei nur noch eine Frage des Zielortes. Ich habe mir über meinen diesjährigen Urlaub noch keine Gedanken gemacht, und bei meiner Firma kann ich ihn immer kurzfristig beantragen. Ich habe nur wenige Kollegen mit schulpflichtigen Kindern, also wäre vermutlich auch während der Sommerferien noch was zu machen. Am besten frage ich am Montag gleich mal nach. Mit Anoki zu verreisen ist sicher weniger anstrengend, als ihn die ganze Zeit in meiner Wohnung zu haben, abgesehen davon, dass die Vorstellung eines gemeinsamen Urlaubs einen wachsenden Reiz auf mich ausübt. Es würde mir guttun, viel und lange zu schlafen, am Strand in der Sonne zu braten, mit meiner Kamera in pittoreske Gassen vorzudringen, in einem Straßencafé Latte Macchiato zu schlürfen oder stundenlang zu lesen … auch wenn ich nicht glaube, dass Anoki mich irgendetwas davon tun lassen würde. Genau genommen müsste ich wohl eher sämtliche Trend- und Extremsportarten mit ihm durchprobieren, nächtelang in überteuerten Touristendiscos rumhüpfen, bis zur völligen Erschöpfung durch Shoppingarkaden rennen und ihn aus den Fängen der landeseigenen Drogenmafia befreien.
Aber jetzt hat Anoki mir diesen Floh ins Ohr gesetzt, und ich werde ihn nicht mehr los. Ich meine – ich könnte mich ja gegen ihn wehren, wenn er mich allzu sehr nervt, zum Beispiel indem ich ihn bewusstlos schlage. Oder wir finden einen Kompromiss: Wenn er mit mir diese Kirche besichtigt, gehe ich anschließend mit ihm zum Bungeespringen. Vielleicht schätze ich ihn ja auch falsch ein, und in Wirklichkeit ist er ein kulturhungriger, bildungsbeflissener, ruhiger Junge, der abends auf dem Zimmer in sein Reisetagebuch schreibt und die Landessprache paukt. Guter Witz, was? Ich könnte übrigens auch mal mit ihm darüber reden.
»Warst du denn schon mal irgendwo im Urlaub?«, frage ich vorsichtig.
Anoki nickt eifrig. »Vom Heim aus. Einmal waren wir ’ne
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