Herzbesetzer (German Edition)
Julian, nur weil du ihm alles durchgehen lässt und er dich dafür anbetet, heißt das noch lange nicht, dass du die Weisheit mit Löffeln gefressen hast. Du schöpfst ja immer nur die Sahnehäubchen ab! Die Wochenenden! Die Ferien! Du verwöhnst ihn wie die Prinzessin auf der Erbse, und da liegt er dir natürlich zu Füßen! Aber was normaler Alltag ist, was Erziehung bedeutet – davon hast du doch überhaupt keine Ahnung! Das ist nämlich unsere Aufgabe, die Drecksarbeit sozusagen. Und dann hast du noch die Stirn, uns Vorschriften machen zu wollen! Verständnis! Wer hat denn Verständnis für mich? Du bestimmt nicht, und Anoki schon gar nicht!«
»Deine Mutter knallt die Türen und redet nicht mehr mit Dirk«, berichtet Anoki mir am nächsten Tag. »Hier geht echt die Post ab, Juli.«
»Scheiße«, rutscht es mir heraus. »Hör mal, lass dich einfach nicht davon … äh, keine Ahnung. Geh zur Schule, mach deine Hausaufgaben, du weißt schon. Die beruhigen sich wieder.«
Anoki schweigt ein paar Sekunden, dann fragt er zaghaft: »Kannst du nicht mal mit der reden?«
Ich hab ihm noch nicht erzählt, dass ich das tags zuvor bereits getan habe – und was dabei rausgekommen ist. Eigentlich hatte ich auch nicht die Absicht, das zu tun. Stattdessen murmele ich irgendetwas Beruhigendes.
Anoki lässt sich nicht täuschen. »Du glaubst da ja selbst nicht dran«, sagt er resigniert. »Die lassen sich scheiden, stimmt’s? Und dann muss ich wieder zurück.«
»Unsinn!«, schreie ich viel zu laut. »Erzähl keinen Quatsch! Meine Mutter macht bloß eine schwierige Phase durch. Vielleicht sind das die Wechseljahre oder so was.« Ich schiebe einen lahmen Scherz hinterher: »Müsstest du doch verstehen, du hast deine Hormone doch selbst nicht unter Kontrolle.«
»Hör mal, ich bin der Einzige in dieser Scheißfamilie, der absolut alles unter Kontrolle hat«, zischt Anoki überraschend humorlos. »Dich eingeschlossen. Am besten buch ich euch ’n gemeinsames Zimmer in der geschlossenen.«
57
Das Ganze bedrückt mich so sehr, dass ich mich entschließe, Judith anzurufen, die flotte Mutti, die ich auf Anokis Space-Party kennengelernt habe. Sie hat mir nämlich von ihrer Scheidung erzählt, machte dabei aber einen völlig ausgeglichenen, zufriedenen Eindruck, und ich hab jetzt das Bedürfnis zu hören, dass Leute sich trennen und trotzdem normal weiterleben können. Nur so für den Fall. Jedenfalls ist Judith hörbar erfreut, wenn auch ein bisschen unkonzentriert, da sie mehrfach von ihrer Tochter unterbrochen wird. Mit Mühe gelingt es uns, eine Verabredung für Donnerstagabend im Biergarten zu treffen.
Als ich dort eintreffe, ketten Judith und Una gerade ihre Räder an einen Baum vor dem Eingang. Wir suchen uns gemeinsam einen Tisch in der Abendsonne, und ich lasse erst mal beiläufig meine Augen über Judith wandern. Doch, ja, sie sieht ganz lecker aus, auch wenn sie drei, vier Jahre älter ist als ich. Sie hat so einen leichten Ökotouch, der sich in ihrem dunkelgrünen Leinenkleid und dem rostfarbenen Baumwollhaarband zeigt und auch darin, dass sie nicht geschminkt ist. Braucht sie aber auch nicht. Ihre Sommersprossen, die dunkelbraunen Löckchen und ihr Lächeln sind attraktiv genug, zudem hat sie hübsche, griffige Kurven. Una sieht ihr kaum ähnlich: ihre weißblonden Haare hängen glatt auf ihre Schultern herab, und außerdem ist sie dünn wie ein Brett. Ich hatte gehofft, sie würde sich auf den Spielplatz verkrümeln, aber nichts liegt ihr ferner. Offenbar ist sie entschlossen, jedes Wort mitzukriegen, das ich mit ihrer Mutter wechsle, und jedes zweite zu kommentieren. Ich muss gestehen, dass das meinen Enthusiasmus merklich dämpft. Gleichzeitig habe ich das Gefühl, dass Judith mich genau beobachtet und daraufhin überprüft, wie ich mit ihrer Tochter klarkomme, so eine Art Assessment-Center für potenzielle Liebhaber. Da ich mir nicht von vornherein alle Chancen vermasseln will und außerdem extrem dringend mal wieder meinen Hormonpegel nivellieren müsste, bleibe ich geduldig, verständnisvoll und kumpelhaft. Trotzdem frage ich mich die ganze Zeit, wie ich meinen Plan, Judith heute noch zu vögeln, unter diesen Umständen realisieren soll.
Sieht schlecht aus. Ich meine, wir haben ein wirklich nettes Gespräch, aber Plaudern war nicht das, was ich mir von dieser Begegnung versprochen hatte, und nach zwei Stunden sagt Judith, sie müsse jetzt los, es sei Zeit für Una, ins Bett zu kommen. Ich greife nach
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