Herzblut: Kluftingers neuer Fall (German Edition)
Zellentüren. Neugierig drehten sich einige den Neuankömmlingen zu.
Der Kommissar blickte zu Strobl. Der hob fragend die Schultern und wandte sich dann an einen jungen JVA -Beamten, der an der Wand lehnte. »Strobl, Kripo. Warum sind denn alle auf dem Korridor?«
»Weil gerade Aufsperrzeit ist«, gab der Mann lakonisch und mit einem Fingerzeig auf seine Armbanduhr zu verstehen.
»Sofort alle in ihre Zellen, ich will in fünf Minuten keinen von denen mehr auf dem Gang sehen, ja?«, befahl Kluftinger knapp. Er hatte keine Lust, in dieser Situation Zweifel an seiner Autorität aufkommen zu lassen.
Nickend setzte sich der Vollzugsbeamte in Bewegung und forderte die Anwesenden mit einem »Auf die Zimmer, meine Herren!« auf, den Korridor zu verlassen.
Missmutig schlurften die meisten in ihre Zellen, dunkle Blicke trafen die beiden Kriminaler .
»War klar, dass der Junge sich früher oder später aufhängen tut, oder, Vassili?«, brummte einer der Gefangenen in nicht ganz akzentfreiem Deutsch einem Mithäftling zu, als er an Kluftinger vorbeiging.
»Haben Sie uns etwas zu dem Selbstmordversuch zu sagen?«, hakte der Kommissar sofort nach.
Doch alles, was er als Antwort bekam, war ein breites Grinsen, gefolgt von einem langsamen Kopfschütteln.
»Keine einzige Wort von uns zu Polizei«, erklärte Vassili kurz, dann verschwanden die beiden in ihrem Haftraum.
Heinz führte sie zur Zelle des Taximörders, wo Maier sich gerade mit Albert Seitz, dem Leiter der JVA, unterhielt, den Kluftinger flüchtig von einigen Konferenzen kannte.
Von ihm erfuhren sie, dass Wolfgang Schratt in den Morgenstunden versucht hatte, sich zu erhängen. Er habe als Untersuchungshäftling einen Einzelhaftraum zugewiesen bekommen. Man habe ihn beim morgendlichen Aufschluss noch rechtzeitig gefunden: leblos, ohne Bewusstsein, aber mit relativ normalem Pulsschlag. Im Moment liege der Mann im Koma und sei auf die Intensivstation des Kemptener Klinikums eingeliefert worden.
Kluftinger nahm die Ausführungen nickend zur Kenntnis. Maier und Strobl machten sich derweil daran, die Mithäftlinge zu befragen. Eine Weile sah sich der Kommissar in der Zelle um, die noch kahler, noch karger wirkte als gedacht: Während sich die meisten Gefangenen nach einiger Zeit häuslich in ihren Hafträumen einrichteten, war das den Untersuchungshäftlingen nicht in dem Maße möglich. Hier war, abgesehen von der kleinen Plastikwanne, in der sich Waschzeug, Handtücher und Essgeschirr befanden, rein gar nichts Persönliches. Dazu das Bett nebst dem darauf hingeworfenen, zur Schlinge zusammengewundenen Laken, ein Tischchen vor dem vergitterten, hoch angebrachten Fenster, ein Holzstuhl, ein kleines Regal, eine Deckenlampe, die halb herausgerissene Türklinke, an der Schratt versucht hatte, sich im Sitzen zu erhängen. Keine Post, keine Bilder, keines der aufreizenden Fotos aus den Männermagazinen, die so viele Wände der Zellen hier schmückten. Nur Schratts Haftbefehl lag neben einem Geheft mit den Anstaltsregeln auf dem kleinen Tisch.
Der Kommissar stieß die Tür zu dem winzigen Nebenraum auf, in dem sich eine Toilettenschüssel befand. Waschen mussten sich die Insassen in Gemeinschaftswaschräumen, sicher auch, um zu verhindern, dass die Justizvollzugsanstalten in den Ruf eines Ferienheims kamen. Ein absurder Vergleich für alle, die schon einmal hier waren.
»Wir würden es gern in jedem der Fälle verhindern können«, riss ihn Seitz aus seinen Gedanken. Der blonde Mittfünfziger, der sich mit seinem schicken grauen Anzug und der schwarzen Krawatte vom Einheitsgrün der Häftlinge abhob, klang, als wolle er sich bei Kluftinger für einen persönlichen Lapsus entschuldigen. »Gelingt uns aber nicht. Wenn einer nicht mehr will, dann findet er einen Weg. Das soll nicht resigniert oder fatalistisch klingen, aber die Erfahrung lehrt uns das. Leider.«
Kluftinger wusste, dass es immer wieder vorkam, dass gerade neu eingelieferte Häftlinge mit der neuen, bedrohlichen Situation nicht klarkamen.
»Jeder zweite Suizid passiert in den ersten drei Haftmonaten«, erklärte Seitz. »Das Umfeld, die Einsamkeit, die latente Bedrohung durch die anderen. Wir sprechen vom Inhaftierungsschock. Da drehen einige einfach durch.«
Kluftinger nickte. Eine direkte Folge seiner beruflichen Tätigkeit, mit der er sich so gut wie nie auseinandersetzte.
»Chef, kommst du mal bitte?« Maier hatte die Zelle betreten, und der Kommissar merkte, dass er aufgeregt war. Er ging mit ihm auf
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