Herzblut: Kluftingers neuer Fall (German Edition)
Dinge vorstellen, als am Sonntagvormittag die Überbleibsel eines Suizidversuchs in der JVA in Augenschein zu nehmen. Aber neuer Lebensgeist hin oder her, das Leben als Polizeibeamter war nun mal kein Wunschkonzert.
Mit einem mulmigen Gefühl betraten sie den Empfangsbereich der vor ein paar Jahren neu am Stadtrand gebauten Justizvollzugsanstalt. Das alte Gefängnis in der Stiftsstadt nahe der Lorenzkirche und dem Kornhaus war viel zu klein geworden und darüber hinaus in desolatem Zustand gewesen. Und so hatte Kempten für ein paar Jahre die zweifelhafte Ehre gehabt, eine der modernsten Strafanstalten Deutschlands zu besitzen – mit mehr als doppelt so vielen Plätzen wie die alte. Kluftinger hatte einen psychologischen Effekt beobachtet: Mit dem Wegzug aus der Innenstadt waren die Gefangenen aus dem Bewusstsein der Bürger verschwunden. Hatte man sie früher noch aus den Fenstern schauen und rufen hören, war das neue Areal von der Außenwelt abgeschottet. Nicht nur, dass das Gebäude so in einer Senke lag, dass man von außen allenfalls ein Stück Mauer und Zaun sah. Auch von innen gab es keinen Blick auf die Landschaft oder umgebende Häuser. Eine abgeschlossene Welt mit eigenen Regeln und leider auch einer häufig nicht gerade positiven Eigendynamik. Und mit einer ganz eigentümlichen, beklemmenden Stimmung.
Nun trat einer der Justizbeamten aus seinem Raum mit der riesigen Panzerglasscheibe heraus und grüßte die beiden Beamten mit einem Kopfnicken. Man kannte sich. So bedurfte es auch keiner Aufforderung, dass sie ihre Handys, Geldbeutel und Autoschlüssel in den kleinen Schließfächern an der Garderobe einsperrten, wie das alle Besucher, egal ob Polizisten, Anwälte oder Angehörige der Häftlinge tun mussten. Eine Vorsichtsmaßnahme, die dafür sorgen sollte, dass die Insassen weder unkontrolliert nach außen kommunizieren konnten noch mittels Bargeld untereinander dealten. Doch auch hier gab es Lücken im Kontrollsystem, die genutzt wurden. Geschichten von im Enddarm eingeschmuggelten Mobiltelefonen und Drogen konnte man immer wieder in der Zeitung lesen.
Wortlos schlossen die Beamten dann ihre Pistolen in der Waffenkammer ein. Erst dann fragte sie der Justizbeamte, der mit seiner bulligen Gestalt und dem Stiernacken eher dem Klischee des Häftlings als dem des Aufsehers entsprach: »Ihr wollt schon zum Suizidversuch auf der 3 A, oder?«
»Wollen ist zu viel gesagt, Heinz!«, sagte Kluftinger zähneknirschend, und der Mann klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter, als er die erste der schweren Panzerglas-Doppeltüren aufsperrte.
»Ja mei, an bestimmte Dinge gewöhnt man sich nie, gell?«, gab er zurück.
Schon im ersten Korridor war viel los: Eine Handvoll Häftlinge wartete unter Aufsicht auf ihren Besuch. Kluftinger warf einen Blick in die Räume, wo andere Insassen bereits mit ihren Angehörigen reden durften.
Besonders deprimierend wirkten die, bei denen eine dicke Glasscheibe Insassen und Besucher voneinander trennte: Bei den »Giftlern«, die eine Drogenvergangenheit hatten, wurde aus Sicherheitsgründen nur über die Gegensprechanlage kommuniziert. Wenn überhaupt Besuche genehmigt wurden.
Eine der Erfahrungen, die am meisten in die Privatsphäre eingriffen: die völlige Unfähigkeit zur Kommunikation mit dem Umfeld draußen. Keine Anrufe, keine Briefe, die nicht zuerst die Zensur durchliefen, keine SMS , kein Internet.
Es kam vor, dass sie Tatverdächtige in einem von Renns Spurensicherungsoveralls brachten, da die Kleidung untersucht werden musste. Kluftinger wusste jedoch aus Erfahrung, dass in diesem Punkt für sie als Ermittler einiges an Potenzial lag: Wenn der Täter bereit war zu reden, dann konnten die Polizisten im Gegenzug anbieten, einen Anruf bei der Freundin zu tätigen, ein Auto abzumelden oder einen Vermieter zu verständigen. So entstand oft eine ganz eigene Art des Vertrauens.
Kluftinger hing diesen Gedanken nach, während sie die Gänge und Treppenhäuser durchschritten, die immer wieder durch elektrisch öffnende Doppeltüren versperrt waren, von denen jede einzeln aufgeschlossen werden musste. Die Häftlinge in ihrer lindgrünen Anstaltskleidung, die ihm begegneten, nahm er nur am Rande wahr. Er wich ihren Blicken aus.
Endlich hatten sie den Zellentrakt erreicht, in dem der Suizidversuch stattgefunden hatte. Kluftinger zog die Brauen zusammen: Die Häftlinge der Abteilung standen in kleinen Grüppchen herum und unterhielten sich vor den geöffneten
Weitere Kostenlose Bücher