Herzen aus Asche
einer männlichen Stimme. Die Lippen des Gemäldes bewegten sich. Amelie fuhr herum und wandte sich hektisch ab. Sie setzte sich vor ihr Bett neben Anna auf den Teppich und bemühte sich nach Kräften, das Poster zu ignori eren.
»Amelie, ist alles in Ordnung mit dir? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gewesen. Es war doch wirklich nur ein dummes Spiel.« Marie lächelte sie mitleidig an. Die Séance war nicht der Grund, weshalb es Amelie an den Rand einer Ohnmacht trieb, aber ein sprechendes Poster überstieg ihre Vorstellungskraft um ein Vielfaches.
»Alles in Ordnung.« Ihre Stimme klang dünn und zittrig. »Aber lass uns nie wieder so etwas tun.«
»Meine Güte, du Angsthase!« Thore stieß ein entner vtes Knurren aus. »Ich glaube, wir sollten die Party besser beenden. Es ist ohnehin schon spät. Das kleine Mädchen braucht seinen Schlaf.«
Amelie ging nicht auf seine Provokation ein. Sie war viel zu sehr damit beschäftigt, ruhig und tief zu atmen.
»Der beleibte Gentleman, ist er mit dir verwandt?« Amelie drehte sich nicht nach dem Poster um, aber es sprach schon wieder mit ihr. Sie blickte verängstigt in die Runde. Niemand schien etwas gehört zu haben.
»Ich habe den Eindruck, die Herrschaften haben me ine Botschaft nicht verstanden«, fuhr der Unbekannte im Poster fort, der ein Faible für die Malerei der Renaissance zu haben schien. Amelie wollte sich die Ohren zuhalten, konnte sich aber nicht rühren. Schweiß rann ihre Wirbelsäule hinab.
»Entschuldige bitte meinen geheimnisvollen Au ftritt, aber ich habe mir einen Spaß erlaubt. Die seltsame Form der Geisteranrufung von Menschen erschließt sich mir nicht ganz. Ihr wollte es unbedingt mystisch und rätselhaft, und deshalb habe ich das Spiel mitgespielt. Doch ich befürchte, ihr habt es nicht entschlüsselt. Natürlich meinte ich mit Berg und Tod die Hügelgräber vor der Stadt. Und ich wollte damit sagen ...« Die geisterhafte Stimme beendete ihren Satz nicht. Ein Gurgeln ertönte, dann ein Schrei, der sich zu entfernen schien. Dann blieb es ruhig.
»Habt ihr das gehört?« Amelie sah jedem ihrer Freu nde einzeln in die Augen, doch alle zuckten nur die Achseln.
»Was gehö rt? Es ist total still hier«, sagte Mikael.
»Die Hügelgräber«, murmelte Amelie.
»Bist du übergeschnappt?« Thores hämisches Lächeln erstarb, stattdessen sah er seine Cousine nun mit unverhohlenem Abscheu an.
» Berg und Tod . Er hat die Hügelgräber vor der Stadt gemeint.« Amelies Stimme klang dünn, und sie schämte sich, das Thema überhaupt noch einmal aufgegriffen zu haben. Vor den Toren Uppsalas gab es drei Erhebungen von etwa fünfzig Metern Durchmesser. Laut Volksglauben lagen dort drei der alten Schwedenkönige begraben. Manche Mythen behaupteten sogar, es seien Gräber der Götter Odin, Thor und Freya persönlich. Jedes Kind der Umgebung besichtigte die Grabstätten bei diversen Schulausflügen. Aber was hatte der Geist - oder was auch immer in ihr Poster gefahren war - damit sagen wollen?
»Er hat die Gräber gemeint? Du hast zuviel Fant asie, Amelie. Typisch Kunststudent.« Mikael bemühte sich um einen freundlichen Tonfall, doch Amelie nahm deutlich die Abneigung darin wahr.
»Ich denke, sie hat sich einen Spaß mit euch e rlaubt«, sagte Thore. »Sie hat das Plektrum bewegt und möchte euch jetzt Angst machen. Soviel Humor hätte ich ihr gar nicht zugetraut.«
Amelie fand nicht die Kraft, ihm zu widersprechen. Anna legte einen Arm um sie. »Die Arme ist ganz mitg enommen. Wir sollten einen Arzt rufen. Marie, hol ihre Mutter.«
Das Stichwort ließ Amelies Lebensgeister zurückke hren. »Nein, auf keinen Fall meine Mutter! Mir geht es gut, ich habe nur ein wenig Kreislaufprobleme. Thore hatte recht, ich habe nur gescherzt. Es tut mir leid.«
»Bist du sicher, dass wir dich allein lassen können?« Sara legte die Stirn in Falten. Sie wirkte ernsthaft b esorgt.
»Ja. Ich möchte jetzt nur noch schlafen.« Amelie zi tterte am ganzen Körper, und nur widerwillig verabschiedeten sich ihre Freunde von ihr. Sie halfen noch, die Gläser und leeren Chipstüten in die Küche zu bringen, wünschten ihrer Mutter eine gute Nacht und verschwanden im Treppenhaus. Als Amelie allein in ihr Zimmer zurückkehrte, löste sie die Tesafilmstreifen vom Poster, nahm es von der Wand und zerriss es in viele kleine Schnipsel, die sie in den Papierkorb warf. Unter keinen Umständen wollte sie unter einem besessenen Poster schlafen, obwohl die Erinnerung daran
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