Herzen aus Gold: Roman (German Edition)
Ned wünschte, er hätte das nicht getan. Die freundlich gemeinte Berührung löste eine Lawine von Emotionen in ihm aus, dabei musste er doch stark und gefasst bleiben. »Was ist mit Ihren nächsten Verwandten? Hat jemand …«
»Da gibt es niemanden«, unterbrach ihn Ned.
Alle wirkten plötzlich verlegen. Der Hoteldirektor kratzte sich nachdenklich den Bart, und Fraser begann unruhig auf und ab zu gehen.
»Niemanden?«, wiederholte Fraser ungläubig. »Ihre Eltern haben keine Eltern, die noch leben, keine Geschwister?«
Ned schüttelte den Kopf. »Sie waren beide die einzigen Kinder, und unsere Großeltern sind tot.«
Die vier Männer um Ned herum schienen nicht zu wissen, was sie sagen sollten.
»Machen Sie sich darum im Moment keine Sorgen, Mr. Sinclair«, sagte Polizeichef Hannigan, der sich als Erster wieder gefangen hatte. »Wir müssen uns zunächst einmal um Ihre verehrte Mutter kümmern und ihr jede erdenkliche Hilfe anbieten. Ich werde mich sofort mit dem Club in Verbindung setzen, den die Auswanderer häufig besuchen.«
»Vielen Dank«, sagte Ned. »Ähm, darf ich meine Mutter sehen, Dr. Fritz?«
»Natürlich. Sie schläft zwar, aber Sie sollten dennoch kurz zu ihr gehen«, sagte er und schob Ned in Richtung Tür.
Jetzt kam auch Bewegung in die anderen Männer, die wie betäubt dagestanden hatten. Ein jeder versprach, später noch einmal vorbeizusehen.
»Mr. Fraser«, rief Ned, als die vier die Suite verließen. »Kann ich Sie noch kurz sprechen?«
»Aber sicher«, erwiderte Fraser, obwohl ihm das offensichtlich höchst unangenehm war. »Ned, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ihr Vater hat die Schlachtfelder Europas überlebt, aber …«
»Da gibt es nichts mehr zu sagen«, bemerkte Ned, überrascht darüber, wie gefasst er war. »Auch mir fällt es schwer zu begreifen, was geschehen ist. Ich denke die ganze Zeit, dass das alles nur ein schrecklicher Irrtum sein kann und dass mein Vater gleich durch diese Tür kommen und meine Mutter in die Arme schließen wird. Wir haben uns so lange auf diesen Augenblick des Wiedersehens gefreut …« Ned räusperte sich und holte tief Luft, um sich zu fassen. Er musste seiner Mutter und Bella zuliebe jetzt stark sein. »Mr. Fraser, im Vertrauen. Wir müssen über Geld sprechen.«
Fraser wich unwillkürlich einen Schritt zurück. »Ned, es tut mir leid, aber ich kann Ihnen wirklich nichts mehr geben.«
Ned hatte nichts anderes erwartet. »Ich wollte Sie auch nicht bitten, uns Geld zu leihen, Mr. Fraser. Ich frage Sie nur, ob Sie mir etwas über die gegenwärtige finanzielle Situation meines Vaters sagen können.« Er runzelte die Stirn. »Einen Moment. Was meinten Sie damit, als Sie sagten, Sie könnten uns nichts mehr geben?«
Fraser fuhr sich sichtlich verlegen mit der Hand durch die Haare. »Ich habe Ihrem Vater meine gesamten Ersparnisse geliehen. Seine erste Grube war ein ziemliches Fiasko, müssen Sie wissen, aber er war entschlossen weiterzumachen – vor allem, nachdem ich erste Erfolge vorzuweisen hatte. Aber bevor ich nicht nach England zurückkehre und ein paar Geschäfte abschließe, habe ich selbst kein Geld mehr zur Verfügung.«
»Wollen Sie damit sagen, dass mein Vater keinerlei Gewinn erzielt hat?«, fragte Ned. Panik stieg in ihm auf.
»Er hat Schulden gemacht. Das war’s. Aber seien Sie beruhigt, Ned, ich möchte das Geld nicht zurückhaben. Zumindest jetzt noch nicht. Ihr Vater war immer davon überzeugt, dass der Erfolg zum Greifen nah war, und ich war derselben Meinung. Niemand konnte das, was geschehen ist, vorhersehen.« Fraser seufzte. »Er hat die Chance, die er sich so sehr verdient hat, einfach nicht mehr bekommen.«
Ned riss sich die Jacke vom Leib und schleuderte sie auf einen Stuhl. Dann zerrte er an seinem Hemdkragen und lockerte seine Krawatte, denn er hatte plötzlich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. »Meine Mutter besitzt so gut wie nichts, Mr. Fraser. Mein Vater hat all unsere Ersparnisse e ingesetzt. Wir haben … hatten«, korrigierte er sich rasch, »nic ht mehr als die Hoffnungen meines Vaters.«
Fraser blickte genauso hilflos drein, wie Ned sich plötzlich fühlte. »Vielleicht können Sie zu Hause in England …«
Ned biss die Zähne zusammen. »In England haben wir niemanden mehr. Dort gibt es nichts, was auf uns warten würde. Der Krieg hat alle an den Bettelstab gebracht. Das hier war unsere einzige Chance auf ein neues Leben.«
»Ned, es tut mir wirklich leid. Warum gehen Sie nicht zu Ihrer
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