Herzen aus Gold: Roman (German Edition)
Hotelbett wirkte seine Mutter noch zierlicher als sonst. Ned sehnte sich nach ihrer tröstlichen Berührung, ihrer beruhigenden Stimme. Insgeheim aber schalt er sich für diese Gefühle. Immerhin war er fast achtzehn Jahre alt – er war ein Mann. Es war jetzt vor allem Bella, die ihre Mutter brauchte. Die Tatsache, dass Lorna weder auf den Klang der Stimmen ihrer Kinder reagierte, geschweige denn auf ihre liebevolle Zuneigung, machte ihnen beiden Angst. Sie schien sich vollkommen in sich selbst verloren zu haben.
Ned wusste nicht, was er dem Hotelier und all den anderen freundlichen Leuten sagen würde, wenn deren Großzügigkeit erschöpft war. Und das würde unweigerlich irgendwann geschehen. Seine Taschen waren leer, und die wenigen Pfund seiner Mutter reichten nicht mal für das Nötigste. Es musste ihm einfach gelingen, Lorna aus ihrer Starre herauszuholen – vielleicht würde eine Art Schockmethode etwas bewirken? Er nahm sich fest vor, am nächsten Morgen vehementer aufzutreten, selbst wenn er sie aus ihrer Betäubung würde herausschütteln müssen.
Ihre Zimmer waren durch eine Verbindungstür miteinander verbunden. In dieser Nacht legte er sich vorsichtig auf das Doppelbett, in dem bereits Arabella schlief, die Glieder nach allen Seiten ausgebreitet. Er seufzte erleichtert, denn sie hatten wieder einen Tag überstanden.
Schon morgen würde alles anders werden, beschloss Ned, bevor er völlig erschöpft einschlief. Er war jetzt das Oberhaupt der Familie, also war es seine Aufgabe, die Sache in die Hand zu nehmen.
Ned wurde von einem lauten Geräusch geweckt. Die Hitze hatte in keiner Weise nachgelassen. Sein Bett war feucht von Schweiß. Auf dem Laken zeichnete sich sein Umriss so deutlich ab, als hätte er sich nicht ein einziges Mal umgedreht, seit sein Kopf auf das Kissen gesunken war. Aber wo war Bella? Beunruhigt stieg er aus dem Bett und machte sich auf den Weg zum Schlafzimmer seiner Mutter.
Der Ventilator war ausgeschaltet, und die heiße, stickige Luft war so reglos, dass er das Gefühl hatte, eine schwere Decke um die Schultern zu tragen. Schottlands bitterste Kälte hatte es nicht vermocht, ihm den Verstand zu rauben, wenn er sich jedoch lange genug in dieser feuchten, kräftezehrenden Hitze aufhielt, würde ihn das mit Sicherheit in den Wahnsinn treiben.
Die Tür zum Schlafraum seiner Mutter war nur angelehnt. Er sah Bella, die, zusammengerollt unter einem leichten Laken, in dem großen Bett lag und tief und fest schlief. Ihre Wangen waren gerötet, ihre Lippen voll und rosig. Sie sah aus wie ein kleiner Engel. Neds Erleichterung währte jedoch nicht lange, denn er bemerkte, dass seine Mutter nicht neben ihr lag. Als er in der Ankleide nachsah, fand er sie auch dort nicht.
Merkwürdig. Die kleine Armbanduhr seiner Mutter, die auf dem Nachttisch aus Teakholz lag, sagte ihm, dass es kurz vor Mitternacht war. Er hatte also kaum eine halbe Stunde geschlafen. Wie hatte es ihr gelingen können, sich still und leise davonzustehlen? Als er Lorna das letzte Mal gesehen hatte, hatte sie auf dem Bett gelegen und ohne jede Regung zur Decke gestarrt. In der kurzen Zeit, in der er eingenickt war, hatte Bella sich anscheinend aus dem Zimmer geschlichen und war zu ihrer Mutter ins Bett geschlüpft, während diese aus irgendeinem seltsamen Grund aufgestanden war und das Zimmer verlassen hatte.
Ned ging hinüber ins Wohnzimmer, wo er den Deckenventilator auf die höchste Stufe schaltete. Das leise Surren war ihm höchst willkommen. Gähnend öffnete er die Fensterläden und hoffte dabei inständig, dass wenigstens ein leichter Windhauch vom Fluss heraufkommen möge, damit er wieder einen klaren Gedanken fassen konnte. Es waren die Geräusche der Nacht, die er als Erstes wahrnahm, zusammen mit dem schlammigen Geruch des Irrawaddy und den würzigen Aromen aus unzähligen Küchen. Und wie immer war der stärkste aller Düfte der der Orchideen, die draußen vor dem Fenster wuchsen. Verschlafen sah er auf das nächtliche Treiben auf der »The Strand« genannten breiten Straße vor dem Hotel hinunter. Straßenbahnen, Automobile, Fahrräder, Rikschas und heilige Kühe drängelten sich zwischen dem endlosen Strom von Menschen hindurch. Immer wieder ertönte lautes Hupen, hin und wieder waren auch einzelne Stimmen zu vernehmen – ein Rufen, ein Lachen.
Ein chaotisches Durcheinander, nicht weit vom Hotel entfernt, weckte seine Aufmerksamkeit. Dem plötzlichen, ungeduldigen Hupkonzert nach gab es anscheinend einen
Weitere Kostenlose Bücher