Herzenhören
Selbst die Könige verstummten.
Da fingen die Tiere an zu singen. Zuerst die Krokodile.
Aber Krokodile können doch gar nicht singen, wende ich jeden Abend an dieser Stelle ein.
Aber sicher, antwortet mein Vater, Krokodile können singen, wenn man sie nur lässt. Und still muss man sein, sonst hört man sie nicht.
Und Elefanten auch?
Und Elefanten auch.
Und wer sang dann?
Die Schlangen und die Eidechsen. Es sangen die Hunde und die Katzen, die Löwen und die Leoparden. Die Elefanten stimmten ein, die Pferde und die Affen. Und natürlich die Vögel. Die Tiere sangen im Chor, und zwar so schön, wie sie noch nie zuvor gesungen hatten, und plötzlich, niemand wusste warum, neigten sich die beiden Rauchsäulen langsam einander zu. Je lauter und heller die Tiere sangen, desto näher bewegten sie sich aufeinander zu, bis sie sich umarmten und eins wurden, wie nur Liebende es können.
Mein Vater knipst das Licht aus und bleibt auf meinem Bett sitzen. Ich schließe die Augen und höre meine Stofftiere singen und denke: Er hat Recht, alle Tiere können singen, wenn man sie nur lässt. Und still muss man sein, sonst hört man sie nicht. Sie summen mir leise ein Lied, bis ich eingeschlafen bin.
Meine Mutter mochte diese Geschichte nicht, weil sie kein Happy End hatte. Mein Vater fand, dass es sehr wohl ein Happy End gebe. So verschieden waren sie.
Ich war mir nicht ganz sicher.
ZWEITER TEIL
1
D ie Stille der Nacht quälte mich. Ich lag in meinem Hotel und wartete auf Geräusche, die mir vertraut waren. Autohupen. Feuerwehrsirenen. Rapmusik oder Fernsehstimmen aus der Nachbarwohnung. Das Klingeln des Fahrstuhls.
Nichts.
Nicht einmal ein Knacken von Treppenstufen oder die Schritte eines anderen Gastes auf dem Korridor. Eine geräuschlose Finsternis füllte mein Zimmer. Nach einer Weile vernahm ich U Bas Stimme. Wie ein unsichtbarer Eindringling wanderte sie durch den Raum. Sie sprach vom Schreibtisch aus zu mir und vom Schrank, und dann klang es, als käme sie aus dem Bett neben mir. Seine Geschichte ging mir nicht aus dem Kopf. Ich dachte an Tin Win. Auch mit ein paar Stunden Abstand konnte ich in ihm nicht meinen Vater sehen. Aber was bedeutete das schon? Was wissen wir von unseren Eltern, und was wissen sie von uns? Und wenn wir nicht einmal jene Menschen wirklich kennen, die uns seit unserer Geburt begleiten – wir sie nicht, sie uns nicht –, was wissen wir dann überhaupt vom anderen? Muss ich ihm oder ihr, so gesehen, nicht alles zutrauen, selbst die abscheulichste Tat? Auf wen oder was, auf welche Wahrheiten ist am Ende Verlass? Gibt es einen Menschen, dem ich ohne Einschränkung vertraue? Kann es einen geben?
Der Schlaf erlöste mich.
Ich träumte von Tin Win. Er war erblindet und gestürzt, lag vor mir auf der Erde und weinte. Ich wollte ihn aufheben und beugte mich zu ihm. Er war zu schwer. Ich nahm seine Hände und zog, ich umfasste seinen Kinderkörper, er umklammerte mich. Doch ebenso gut hätte ich versuchen können, einen Felsbrocken zu bewegen. Ich kniete mich neben ihn wie neben das Opfer eines Verkehrsunfalls, das blutend am Straßenrand liegt. Ich redete auf ihn ein, versicherte ihm, dass Hilfe auf dem Weg sei. Er bat mich, nicht wegzugehen, ihn nicht allein zu lassen. Plötzlich stand mein Vater neben uns. Er hob ihn auf, drückte ihn fest an sich und flüsterte ihm etwas ins Ohr. In seinen Armen beruhigte sich Tin Win. Er legte den Kopf auf seine Schulter, schluchzte noch ein wenig und schlief ein. Die beiden drehten sich um und gingen fort.
Es war bereits warm, als ich erwachte. Von draußen hörte ich Insekten summen und zwei Männer, die sich unter meinem Fenster unterhielten. Es lag ein süßlicher Geruch in der Luft, der mich an frische Zuckerwatte erinnerte. Als ich aufstand, empfand ich einen leichten Muskelkater in den Waden. Doch ich fühlte mich viel besser als gestern, der lange Schlaf hatte mir gut getan. Die Wärme machte die kalte Dusche erträglich, selbst der Kaffee schmeckte nicht so schlecht wie am Tag zuvor. Eigentlich hatte ich heute meine Suche nach Mi Mi beginnen wollen, aber etwas hielt mich zurück. Schenkte ich U Bas Geschichte mehr Glauben, als ich mir eingestehen wollte? Obwohl ich mich gestern so sehr dagegen gewehrt hatte und wütend auf ihn war, musste ich jetzt zugeben, dass mich seine Erzählung in den Bann gezogen hatte. Und da ich, abgesehen von der vierzig Jahre alten Adresse, keine eigene Spur oder irgendwelche Anhaltspunkte hatte, beschloss ich, auf
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