Herzenhören
seiner Trauer über diese Einsicht erlösen kann – es sei denn, er selbst. Und trotz allem, so habe U May ihr immer wieder gesagt, sei das Leben ein Geschenk, das man nicht missachten dürfe. Ein Geschenk voller Rätsel, bei dem Leid und Glück untrennbar miteinander verbunden sind, und jeder Versuch, das eine ohne das andere zu bekommen, müsse scheitern.
Das Kloster lag nicht weit von der Hauptstraße, umgeben von einer halbhohen Mauer aus Stein. Direkt dahinter befanden sich ein halbes Dutzend kleine, weiße Pagoden, die mit bunten Wimpeln und goldenen Glöckchen geschmückt waren. Das Kloster selbst stand auf gut drei Meter hohen Pfählen, die es in der Regenzeit vor Überschwemmungen schützten. Mit den Jahren waren neben der Haupthalle etliche Nebenhäuser entstanden. In der Mitte ragte ein viereckiger Turm empor, der sich in sieben Stufen nach oben verjüngte und dessen goldene Spitze schon von weitem zu sehen war. Die Außenwände bestanden aus Pinienholz, das die Sonne tiefbraun gefärbt hatte, die Dächer waren mit fast schwarzen Holzschindeln gedeckt, die Böden und die kräftigen Balken, die sie zusammenhielten, waren aus Teakholz. Vor dem Hauptgebäude liefen zwei breite Treppen auf eine große Veranda zu, und von dort führten drei weite, offene Türen in eine über dreißig Meter lange Halle. Dem Eingang gegenüber thronte im Halbdunkel ein mächtiger Buddha aus Holz, der ganz mit Blattgold überzogen war und fast bis unter das Dach reichte. Davor standen Tische mit Opfergaben: Tee, Blumen, Bananen, Mangos und Orangen. An der Wand hinter dem Buddha hingen Regale mit Dutzenden kleiner, goldglänzender Buddhafiguren. Manche waren in gelbe Umhänge gewickelt, in anderen steckten rote, weiße oder goldene Schirme aus Papier.
Su Kyi und Tin Win gingen Hand in Hand über den weiten Hof zur Treppe des Haupteingangs. Zwei Mönche fegten mit Reisigbesen die feuchte Erde, an einer Wäscheleine hingen dunkelrote Mönchskutten zum Trocknen. Es roch nach Feuer. Tin Win hörte das Knistern von brennendem Holz.
U May saß auf einem Podest unter einem glaslosen Fenster am Ende der Halle. Er hatte die Beine verschränkt, seine hageren Hände im Schoß aufeinander gelegt und bewegte sich nicht. Vor ihm stand ein flaches Tischchen, darauf ein Becher und eine Teekanne, daneben ein Teller mit gerösteten Kernen.
Sein Kopf war kahl geschoren, die geschlossenen Augen lagen tief in ihren Höhlen, seine Wangen waren schmal, aber nicht eingefallen. Su Kyi erschrak jedes Mal ein wenig, wenn sie ihn sah. Seine Züge schienen ihr so klar, wie sie es sonst von niemandem kannte. Es war hager, aber nicht ausgemergelt, faltig, aber nicht zerknittert. Sein Gesicht war wohl der Spiegel seiner Seele. Nicht eine Spur von überflüssigem Ballast.
Su Kyi musste an den Tag denken, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Er war mit dem Zug aus der Hauptstadt gekommen und stand vor dem Bahnhof. Das war vor über fünfundzwanzig Jahren. Sie war auf dem Weg zum Markt, er war barfuß und er lächelte sie an. Schon damals hatte sein Gesicht sie berührt. Er fragte nach dem Weg, sie war neugierig und begleitete ihn bis zum Kloster. Dabei kamen sie ins Gespräch, und so begann ihre Freundschaft. In den folgenden Jahren erzählte U May ihr gelegentlich von seiner Kindheit, seiner Jugend und dem Leben, das er geführt hatte, bevor er sich entschloss, Mönch zu werden. Das war nicht oft, und es war nicht viel; es waren Fetzen, die Su Kyi sammelte und aus denen sich ein widersprüchliches Bild ergab.
U May stammte aus einer wohlhabenden Familie, die in Rangun mehrere Reismühlen besaß. Sie gehörte zur indischen Minderheit, die nach der Annektierung des Deltas durch die Engländer im Jahr 1852 von Indien nach Birma gekommen waren und seither einen nicht unwichtigen Teil des Handels in der geschäftigen Hafenstadt kontrollierten. Sein Vater war ein Patriarch, autoritär und jähzornig, von der Familie gefürchtet wegen seiner gewalttätigen Wutausbrüche. Seine Kinder mieden ihn und seine Frau flüchtete in Krankheiten, die auch die britischen Ärzte in Rangun nicht diagnostizieren, geschweige denn heilen konnten. Nach der Geburt des dritten Kindes hatte der Vater genug von seiner ständig kränkelnden Frau und schickte sie mit den beiden jüngsten Kindern zu Verwandten nach Kalkutta. Dort sei die medizinische Versorgung besser, behauptete er. U May musste beim Vater bleiben; als ältester Sohn sollte er zum Nachfolger erzogen werden und eines
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