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Herzenhören

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Titel: Herzenhören Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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ihn zu warten.
    Es war kurz nach zehn, als er mich abholte.
    Ich saß vor dem Hotel und beobachtete einen alten Mann, der mit einer langen Schere den Rasen schnitt. Der Garten des Hotels hatte etwas Verwunschenes, das mir gestern nicht aufgefallen war. Noch nie hatte ich eine so ungewöhnliche Mischung aus Blumen, Büschen und Bäumen gesehen. Auf den Beeten wucherte roter Klatschmohn zwischen Freesien, Gladiolen und kräftigen gelben Orchideen. Und über ihnen wölbten sich Zweige mit Hunderten von roten, weißen und rosafarbenen Hibiskusblüten. In der Mitte des Rasens stand ein Birnbaum, dessen weiße Blüten über das Gras verstreut lagen, etwas weiter entfernt zwei Palmen und ein Avocadobaum voller Früchte. In einem Gemüsegarten konnte ich Bohnen und Erbsen, Rettiche, Karotten, Erdbeeren und Himbeeren erkennen.
    Ich sah U Ba schon von weitem kommen. Er lief die Straße entlang, grüßte einen Radfahrer und bog in die Einfahrt des Hotels. Um schneller laufen zu können, zog er seinen Longy mit beiden Händen ein wenig hoch, wie eine Frau, die im langen Kleid über eine Pfütze springt.
    Er begrüßte mich lächelnd und mit einem vertrauten Augenzwinkern. Als hätten wir uns gestern nicht im Streit getrennt und würden uns seit Jahren kennen.
    »Guten Morgen, Julia. Haben Sie ein wenig Schlaf gefunden?«, fragte er.
    Ich lächelte über seine altmodische Art sich auszudrücken.
    »Oh, wie schön Ihre Augen strahlen. Genau wie die Ihres Vaters! Die vollen Lippen und die weißen Zähne haben Sie auch von ihm. Verzeihen Sie, dass ich mich wiederhole, es ist nicht meine Einfalt, es ist Ihre Schönheit, die mich so etwas zweimal sagen lässt.«
    Sein Kompliment machte mich verlegen. Ich stand auf und packte meinen Kugelschreiber und einen Notizblock in meinen kleinen Rucksack.
    Wir gingen auf die Straße und bogen dann in einen Trampelpfad ein, der zum Fluss hinunter führte. Die Pflanzen am Wegrand wuchsen und blühten so üppig wie im Garten des Hotels. Der Weg war mit Dattelpalmen, Mangobäumen und Bananenstauden gesäumt, an denen kleine, gelbe Bananen hingen. Es roch nach frischem Jasmin und reifen Früchten. Die warme Luft auf meiner Haut, auf meinen nackten Armen und Beinen tat gut.
    Am Fluss standen mehrere Frauen bis zu den Knien im Wasser, wuschen Wäsche und sangen dabei. Die ausgewrungenen Hemden und Longys legten sie zum Trocknen auf die Felsen in die Sonne. Einige grüßten U Ba, mich beobachteten sie voller Neugier. Wir überquerten eine kleine Holzbrücke, kletterten auf der anderen Seite des Flusses eine Böschung hinauf und folgten einem steil ansteigenden Feldweg. Der Gesang der Frauen begleitete uns bis zur Kuppe eines Berges. Der Anblick des Tales und der Gipfel in der Ferne irritierte mich. Etwas stimmte nicht an dieser Postkartenansicht. Die Hänge waren nur spärlich mit jungen Pinien bedeckt, dazwischen lag braunes, verbranntes Gras.
    »Früher konnte man hier nichts als dichte Pinienwälder sehen«, sagte U Ba, als hätte er meine Gedanken erraten. »In den Siebzigerjahren kamen die Japaner und holzten alle Bäume ab.«
    Ich wollte fragen, warum sie sich das erlaubt hatten und ob niemand sich dagegen gewehrt hatte, schwieg aber lieber. Mir war zu vieles rätselhaft an diesem Ort, und ich hatte den Eindruck, dass es klüger sei, nicht immer alle Fragen zu stellen. Nicht gleich, jedenfalls.
    Wir liefen weiter, vorbei an alten, verfallenen englischen Herrschaftshäusern und ärmlichen, meist fensterlosen Hütten, deren schiefe Wände aus getrockneten Blättern und Gräsern geflochten waren. Vor einem der wenigen Holzhäuser blieben wir stehen. Es stand auf knapp einen Meter fünfzig hohen Stelzen, war aus fast schwarzem Teak, hatte ein Wellblechdach und eine schmale Veranda. Unter dem Haus wühlte ein Schwein, über den Hof liefen mehrere Hühner.
    Wir stiegen die Stufen zur Veranda hoch. U Ba führte mich in einen großen Raum mit vier glaslosen Fenstern. Die Einrichtung sah aus wie eine englische Hinterlassenschaft aus der Kolonialzeit. Ein brauner Ledersessel, auf dessen Sitzkissen sich die Sprungfedern abzeichneten, zwei Sofas mit verschlissenen Bezügen, ein Kaffeetischchen und ein dunkler Schrank. An der Wand ein Ölbild vom Tower in London.
    »Ruhen Sie sich aus, ich mache uns Tee«, sagte U Ba und verschwand.
    Ich wollte mich setzen, als ich ein lautes Summen hörte. Ein kleiner Bienenschwarm flog quer durch den Raum, von einem der Fenster zum offenen Schrank und wieder zurück. Im

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