Herzenhören
und den Hals hinab. Ich erinnere mich an die Sirenen, das besorgte Gesicht meiner Mutter und einen jungen Arzt mit buschigen Augenbrauen. Er nähte die Risse, aber die Blutungen hörten nicht auf.
Kurz darauf stand mein Vater neben mir, ich hatte seine Stimme schon aus dem Vorzimmer gehört. Er nahm meine Hand, strich mir über das Haar und erzählte eine Geschichte. Es verging keine Minute, da versiegte der rote Strom aus meinem Kopf. Als hätte sich seine Stimme behutsam auf die Wunde gelegt, sie bedeckt und sanft verschlossen.
Die Geschichten, die mein Vater erzählte, hatten selten ein glückliches Ende. Meine Mutter hasste sie. Grausam und brutal, erklärte sie. Sind das nicht alle Märchen?, verteidigte sich mein Vater. Ja, gab meine Mutter zu, aber deine sind verworren und bizarr und ohne jede Moral und für unsere Kinder völlig ungeeignet.
Ich liebte sie. Gerade weil sie so absonderlich waren, so ganz anders als alles, was ich sonst an Geschichten und Fabeln hörte oder las. Es waren alles birmanische Märchen, die er erzählte, und sie waren der einzige Blick in seine Vergangenheit, den mein Vater gestattete. Vielleicht faszinierten sie mich deshalb so sehr.
Die Geschichte vom Prinzen und der Prinzessin und dem Krokodil war mein Lieblingsmärchen. Mein Vater musste es mir erzählen, bis ich jeden Satz, jedes Wort, jede Pause, jede Betonung auswendig kannte und ihn verbesserte, wenn er es einmal anders wiedergab.
Es war einmal eine wunderschöne Prinzessin. Es war einmal, diese Zauberworte, die die Welt um mich verwandelten. Das hellrosa Zimmer löste sich auf, ich sah den Prinzen und seine Prinzessin und sonst nichts.
Die Prinzessin lebte am Ufer eines großen Flusses. Sie wohnte mit ihrer Mutter und ihrem Vater, der Königin und dem König, in einem alten Schloss. Es hatte dicke, hohe Mauern, hinter denen es kalt und dunkel und sehr still war. Die Prinzessin hatte weder Brüder noch Schwestern und fühlte sich am Hof sehr einsam. Die Eltern sprachen mit ihrer Tochter kaum ein Wort. Ihre Dienerinnen sagten immer nur »Ja, Prinzessin« oder »Nein, Prinzessin«, und im ganzen Schloss gab es niemanden, mit dem sie sich unterhalten konnte. Sie langweilte sich entsetzlich. Und so wurde sie mit der Zeit zu einer einsamen und traurigen Prinzessin, die sich nicht erinnern konnte, wann sie das letzte Mal gelacht hatte. Manchmal hatte sie das Gefühl, sie hätte vergessen, wie das geht. Dann schaute sie in einen Spiegel und versuchte zu lächeln. Sie verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Nicht einmal komisch war das. Wenn sie gar zu traurig wurde, ging sie hinunter an den Fluss. Dort saß sie im Schatten eines Feigenbaumes, hörte auf den Fluss und lauschte den Vögeln und dem Zirpen der Zikaden. Sie liebte die Tausende von Sternchen, die die Sonne mit ihrem Licht auf die Wellen schüttete. Dann wurde ihr ein wenig leichter ums Herz, und sie träumte von einem Menschen, der sie zum Lachen bringen könnte.
Auf dem anderen Ufer des Flusses lebte ein König, der für seine Strenge im ganzen Reich berüchtigt war. Keiner seiner Untertanen durfte faul oder träge sein. Die Bauern mussten unentwegt auf ihren Feldern schuften, die Handwerker in ihren Werkstätten. Um zu sehen, ob sie auch alle fleißig seien, schickte er Inspektoren durch das ganze Land. Wer bei einer Pause ertappt wurde, bekam zehn Schläge mit einem Bambusrohr. Die Strenge des Königs machte auch vor seinem Sohn nicht Halt. Von morgens bis abends musste der Prinz lernen. Der König ließ die angesehensten Gelehrten aus dem ganzen Land herbeischaffen, um den Prinzen zu unterrichten. Aus ihm sollte der klügste Prinz werden, den es je gab.
Eines Tages gelang es dem jungen Prinzen, sich aus dem Schloss davonzustehlen. Er schwang sich auf sein Pferd und ritt hinunter zum Fluss. Dort sah er am anderen Ufer die Prinzessin sitzen, die sich ein paar gelbe Blumenblüten in ihr langes schwarzes Haar gesteckt hatte. Noch nie hatte er ein schöneres Mädchen gesehen, und er kannte nur noch einen Wunsch: Er wollte an das andere Ufer.
Nun gab es zwischen den beiden Königreichen weder eine Brücke noch einen Fährmann, der Reisenden über den Strom geholfen hätte. Die beiden Könige waren miteinander verfeindet und hatten ihren Untertanen verboten, einen Fuß über den Fluss zu setzen. Wer es dennoch versuchte, büßte mit dem Tod dafür. Im Fluss wimmelte es vor Krokodilen, die nur darauf warteten, dass ein Fischer oder ein Bauer sich in den Strom wagen
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