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Herzenhören

Herzenhören

Titel: Herzenhören Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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wiederholte, dass ich mir nicht vorstellen könne, dass mein Vater je in seinem Leben blind gewesen sei, und je länger ich erzählte, desto weniger richteten sich meine Worte an U Ba. Ich sprach zu mir, es war der Versuch, mir einzureden, dass sich die Wahrheit auf die Grenzen meiner Vorstellungskraft beschränken musste.
    U Ba hörte zu und nickte, und es schien, als wisse er genau, was ich meine, und stimmte mir zu. Als ich fertig war, wollte er wissen, was das sei, ein Therapeut.
    Er trank einen Schluck von seinem Tee.
    »Ich fürchte, Julia, ich muss mich jetzt verabschieden, ich bin es nicht mehr gewohnt, so viel zu erzählen. Oft verbringe ich die Tage schweigend. In meinem Alter ist das meiste gesagt. Ich weiß, Sie möchten mich nach Mi Mi fragen. Sie wollen wissen, wer und wo sie ist, und welche Rolle sie im Leben Ihres Vaters spielt und somit vielleicht auch in Ihrem. Ich kann Sie nur wieder um etwas Zeit und Langmut bitten. Unsere Geschichte bewegt sich unaufhaltsam auf sie zu, und ich versichere Ihnen, Ihr Warten wird belohnt, seien Sie unbesorgt.«
    Er stand auf und verneigte sich. »Ich bringe Sie auf die Straße.«
    Wir gingen zur Tür. Ich war gut einen Kopf größer als er, aber U Ba schien nicht klein, sondern ich zu groß, und gemessen an seinen schnellen, behänden Schritten fühlte ich mich wieder schwer und unbeweglich.
    »Sie finden zu Ihrem Hotel?«
    Ich nickte.
    »Wenn Sie wollen, hole ich Sie morgen nach dem Frühstück in Ihrem Hotel ab und zeige Ihnen mein Haus. Dort sitzen wir ungestörter, und ich kann Ihnen ein paar Fotos zeigen.«
    Er wartete meine Antwort nicht ab und verabschiedete sich mit einer Verbeugung.
    Ich ging langsam die Straße hinunter, als ich plötzlich seine Stimme hinter mir hörte. Er flüsterte.
    »Was Ihren Vater betrifft, Julia, er ist hier, ganz nah. Sehen Sie ihn?«
    Ich wandte mich auf der Stelle um.
    »Ist das eine Frage oder eine Aufforderung zum Suchen?«
    Ich bekam keine Antwort. U Ba war in der Dunkelheit verschwunden.
    15
    E s war später Abend, ich lag auf meinem Bett im Hotel, schloss die Augen und sah meinen Vater vor mir. Ich bin vier oder fünf Jahre alt, und er sitzt auf meiner Bettkante. Mein Zimmer ist in einem hellen Rosa gestrichen. Von der hohen Decke hängt ein Mobile mit gelbschwarz gestreiften Bienen, neben meinem Bett zwei Regale mit Büchern, Puzzles und Spielen, gegenüber ein kleiner Kinderwagen, in dem drei Puppen schlafen. Mein Bett ist voller Stofftiere. Hoppel, der gelbe Hase, der einmal im Jahr Schokoladeneier bringt. Dodo, die Giraffe, die ich um ihren langen Hals beneide, weil ich damit problemlos an die Keksdosen meiner Mutter in den oberen Regalen herankommen würde; Arika, der Schimpanse, von dem ich glaube, dass er laufen kann. Außerdem zwei kleine Dalmatiner, eine Katze, ein Elefant, drei Bären und Winnie Puh.
    In meinen Armen liegt Dolores, meine Lieblingspuppe mit den ausgefransten schwarzen Haaren; ihr fehlt eine Hand, mein Bruder hatte sie im Streit abgeschnitten. Es ist warm, ein milder Sommerabend in New York, mein Vater hat das Fenster geöffnet, und von draußen weht ein leichter Luftzug ins Zimmer. Er bringt die Bienen über mir zum Tanzen.
    Ich sehe meinen Vater, sein schwarzes Haar, die dunklen Augen, seine zimtfarbene Haut und die große Nase, auf der die kräftige Brille sitzt. Sie war rund und schwarz und Jahre später sollte ich ein Bild Gandhis entdecken und staunen über dessen Ähnlichkeit mit meinem Vater.
    Er beugt sich zu mir, lächelt und atmet tief ein. Ich höre seine Stimme, eine Stimme, die eigentlich etwas anderes war. Sie klang wie ein Musikinstrument, eine Violine, nein, eher eine Harfe, er konnte nicht laut werden, so sehr er sich auch bemühte. Ich habe ihn nie schreien hören. Es ging nicht. Seine Stimme war weich und sanft und sehr melodisch. Egal was er sagte, in meinen Ohren klang es, als singe er. Seine Stimme konnte mich tragen und trösten, sie konnte mich beschützen und einschläfern, und wenn sie mich weckte, erwachte ich mit einem Lächeln. Sie konnte mich beruhigen wie bis heute nichts und niemand auf der Welt.
    Wie an jenem Tag, als ich mit meinem neuen Fahrrad im Central Park das Gleichgewicht verlor und mit dem Kopf auf einen Stein schlug. Das Blut strömte aus zwei Platzwunden wie aus einem Wasserhahn. Eine Ambulanz brachte mich ins Krankenhaus auf der 70. Straße. Ein Sanitäter hatte mir einen Verband angelegt, aber das Blut sickerte durch den Mull und lief mir das Gesicht

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