Herzenhören
obersten Regal konnte ich ihr Nest hängen sehen, größer als ein Football. Ich ging vorsichtig ans andere Ende des Zimmers, setzte mich und bewegte mich nicht.
»Sie haben hoffentlich keine Angst vor Bienen«, fragte U Ba, als er mit einer Kanne Tee und zwei Tassen zurückkam.
»Nur vor Wespen«, log ich.
»Meine Bienen können nicht stechen.«
»Sie meinen, sie haben noch niemanden gestochen.«
»Ist das ein Unterschied?«
»Was machen Sie mit dem Honig?«
»Welchem Honig?«
»Dem Honig der Bienen.«
U Ba blickte mich an, als höre er zum ersten Mal, dass Bienen Honig produzieren. »Den rühre ich nicht an. Der gehört den Tieren.«
Ich folgte dem Flug der Bienen mit misstrauischem Blick und war mir nicht sicher, ob er das ernst meinte. »Warum lassen Sie das Nest dann nicht entfernen?«
Er lachte. »Warum sollte ich sie vertreiben? Sie tun mir nichts. Im Gegenteil, ich fühle mich geehrt, dass sie sich mein Haus ausgesucht haben. Wir leben seit fünf Jahren friedlich miteinander. Wir Birmanen glauben, dass sie Glück bringen.«
»Und? Stimmt es?«
»Ein Jahr nach dem Einzug der Bienen ist Ihr Vater zurückgekehrt. Nun sitzen Sie mir gegenüber, Julia. Sind da Zweifel noch erlaubt?«
Er lächelte wieder und goss uns Tee ein.
»Wo mussten wir unsere Geschichte unterbrechen? Tin Win war erblindet, und Su Kyi machte sich auf die Suche nach Hilfe, richtig?«
Ich nickte.
Er begann zu erzählen.
2
D er Regen prasselte auf das Wellblechdach, als sollte das Haus in einem Hagel aus Steinen und Erdklumpen untergehen. Tin Win hatte sich in die hinterste Ecke der Küche verkrochen. Er mochte diese Wolkenbrüche nicht, das Trommeln des Wassers auf dem Metall war ihm zu laut, und die Wucht, mit der es vom Himmel stürzte und sich über die Menschen ergoss, machte ihm Angst. Er hörte Su Kyis Stimme, aber der Regen verschlang ihre Worte.
»Wo bist du denn?«, rief sie noch einmal und steckte ihren Kopf durch die Küchentür. »Nun komm schon, wir wollen los. Es hört gleich auf.«
Su Kyi hatte, wie fast immer, wenn es ums Wetter ging, Recht. Sie besaß ein untrügliches Gespür für sich anbahnende Gewitter, für tropische Regenschauer und ihre Dauer. Sie spüre sie im Bauch und vor allem in den Ohren, behauptete sie. Die begännen zu glühen und zu kribbeln, und am Ende, kurz vor den ersten Regentropfen, würden sie ganz schrecklich jucken. Tin Win hatte längst aufgehört, an ihren Vorhersagen zu zweifeln. Keine zwei Minuten später standen sie vor dem Haus, und es regnete nicht mehr. Nun hörte er nur noch, wie das Wasser vom Dach und den Blättern tropfte und wie es im Graben vor dem Haus in einem wilden Strom zu Tal schoss.
Su Kyi hatte ihn an die Hand genommen. Der Boden war glitschig, und bei jedem Schritt quoll der Matsch durch seine Zehen. Es war noch früh, vermutlich kaum später als sieben. Die Sonne war durch die Wolken gebrochen und schien ihm ins Gesicht. Noch war ihre Wärme angenehm, aber schon bald würde ihre Kraft zu stark sein, sie würde auf der Haut brennen, und das Wasser würde verdampfen und in weißen Wolken aufsteigen, und es würde aussehen, als schwitze die Erde. Sie liefen an Hütten vorbei, aus denen die Stimmen des Morgens klangen, Kindergeschrei, Hundegebell, das Geklapper von Blechtöpfen.
Sie hatte ihm gesagt, sie wolle mit ihm ins Kloster unten im Dorf. Dort lebte U May, ein Mönch, den sie schon lange kannte und der ihm, Tin Win, vielleicht helfen könne. U May war einer der wenigen Menschen, streng genommen vielleicht der einzige, dem Su Kyi vertraute, zu dem sie eine Art Seelenverwandtschaft verspürte. Ohne ihn, meinte sie, hätte sie den Tod ihrer Tochter und ihres Mannes nicht überlebt. Er war schon alt, vermutlich über achtzig, genau wusste sie es nicht, und eine Art Abt des Klosters. Seit seiner Erblindung vor einigen Jahren unterrichtete er jeden Morgen ein Dutzend Kinder aus dem Ort, und vielleicht, so hoffte Su Kyi, könnte er sich Tin Wins annehmen, ihn herauslocken aus der Finsternis, die ihn umgab, könnte ihn lehren, was er sie gelehrt hatte: dass Leben mit Leid verbunden ist, jedes Leben, ohne Ausnahme; dass Krankheiten unausweichlich sind, dass wir älter werden und dem Tod nicht entrinnen können. Das sind die Gesetze der menschlichen Existenz, hatte U May ihr erklärt. Gesetze, die für jeden gelten, überall auf der Welt, gleichgültig, wie sehr sich die Zeiten auch ändern mögen. Es gibt keine Macht, die einen Menschen von dem Schmerz oder von
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