Herzenhören
Rascheln Schattierungen gab, so wie bei Farben. Er hörte dünne Zweige, die sich aneinander rieben, und Blätter, die sich streichelten. Er hörte, wie Laub vor ihm zu Boden fiel, und merkte, dass auch beim Segeln durch die Luft kein Blatt wie das andere klang. Er hörte es summen und säuseln, zischen und ziepen, rauschen und rumoren. Ihn beschlich eine ungeheuerliche Ahnung. Gab es neben der Welt der Formen und Farben auch eine Welt der Stimmen und Laute, der Geräusche und Töne? Ein verborgenes Reich der Sinne, das uns umgab, ohne dass wir es bemerkten, und das noch aufregender und rätselhafter war als die Welt der Sehenden?
Er hatte die Gabe des Hörens entdeckt.
Viele Jahre später, in New York, sollte er sich wieder an diesen Augenblick erinnern, als er zum ersten Mal in einem Konzertsaal saß und das Orchester zu spielen begann. Er war fast trunken vor Glück, als er die leisen Paukenschläge im Hintergrund vernahm, die das Stück eröffneten, und dann die Violinen einstimmten, die Bratschen und die Celli, die Oboe und die Flöten. Sie fingen an zu singen, so wie die Blätter an jenem Sommermorgen in Kalaw. Jedes Instrument für sich zunächst und dann vereinigten sie sich und überwältigten seine Sinne dermaßen, dass ihm der Schweiß ausbrach und es ihm den Atem raubte.
Su Kyi zog ihn weiter, und er taumelte an ihrer Seite wie trunken von diesen Eindrücken. Nach ein paar Metern war es vorbei, so schnell wie es gekommen war. Tin Win konnte seine eigenen Schritte und Su Kyis schweren Atem vernehmen, den Chor und ein paar krähende Hähne – nicht mehr. Aber zum ersten Mal hatte er eine Ahnung bekommen vom Leben und seinen Wundern, von einer Intensität, die wehtun konnte und manchmal kaum auszuhalten war.
So fing es an, ohne dass es an diesem Tag jemand wirklich begriffen hätte.
3
E s war gerade hell geworden, als sie im Kloster ankamen. U May saß, umgeben von mehreren älteren Mönchen, in der Halle und meditierte. Ein junger Mönch hockte auf einem Schemel unter der Küche und zerbrach trockene Zweige. Um ihn herum tobten zwei Hunde. Neben der Treppe standen in einer Reihe ein Dutzend Novizen in ihren roten Kutten, die Köpfe frisch geschoren. Sie begrüßten Tin Win und gaben Su Kyi eines der dunkelroten Tücher für ihn. Sie legte es ihm um den schmalen Körper. Am Abend zuvor hatte sie ihm den Kopf rasiert, und als sie ihn nun zwischen den anderen Mönchen stehen sah, wurde ihr erneut bewusst, dass er sehr groß war für sein Alter und ein schöner Junge. Er hatte einen ausgeprägten Hinterkopf und einen schlanken Hals, eine kräftige, aber nicht zu lange Nase und Zähne, so weiß wie die Blüten des Birnbaums vor ihrem Haus. Seine Haut hatte die Farbe von hellem Zimt und trotz seiner vielen Stürze und Wunden, waren nur an den Knien zwei große Narben zurückgeblieben. Seine Hände waren schmal, die Finger lang und feingliedrig, und seinen Füßen sah man es nicht an, dass sie keine Schuhe kannten.
Trotz seiner Größe wirkte er auf sie verwundbar wie ein Küken, das verschreckt über den Hof rennt. Sein Anblick rührte sie. Es gab Momente, da kamen ihr die Tränen, wenn sie an seine Einsamkeit, seine Bedürftigkeit dachte. Sie hasste diese sentimentalen Gefühle. Sie wollte kein Mitleid mit ihm haben, sie wollte ihm helfen, und da war Mitleid kein guter Ratgeber.
Es fiel ihr schwer, ihn zurückzulassen, auch wenn es nur für ein paar Wochen sein würde. U May hatte ihr angeboten, Tin Win für eine Weile in seine Obhut zu nehmen; er glaubte, dass die Gesellschaft der anderen Jungen ihm gut tun würde, dass die gemeinsame Meditation und der Unterricht, die Ruhe und der verlässliche Alltag im Kloster ihm Sicherheit und Vertrauen geben könnten.
Die Novizen nahmen ihn in ihre Mitte, drückten ihm eine schwarze Schale in die eine Hand und einen Bambusstock in die andere. Das Ende dieses Stocks klemmte sich der Mönch, der vor ihm stand, unter den Arm; so wollte er Tin Win sicher durch den Ort führen. Bald darauf setzte sich der Zug in Bewegung, in kurzen, behutsamen Schritten, so dass auch der Blinde ohne Mühe folgen konnte. Die Novizen schritten durch das Tor, bogen dann nach rechts und trotteten langsam in Richtung Hauptstraße. Ohne dass Tin Win es bemerkt hätte, passten sie sich seiner Geschwindigkeit an, liefen etwas schneller, wenn er das Tempo forcierte, oder gingen gemächlicher, wenn er unsicher war und seine Schritte langsamer wurden. Vor fast jedem Haus stand ein Mann oder
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