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Herzenhören

Herzenhören

Titel: Herzenhören Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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eines Tages.
    »Wer behauptet, dass ich nichts sehen kann?«
    »Su Kyi. Sie sagt, du bist blind.«
    »Ich? Blind? Ich habe vor vielen Jahren mein Augenlicht verloren, das stimmt. Aber ich bin deshalb nicht blind. Ich sehe nur anders.« Nach einer kurzen Pause fragte er: »Und du? Bist du blind?«
    Tin Win überlegte. »Ich kann hell und dunkel unterscheiden, mehr nicht.«
    »Hast du keine Nase zum Riechen?«
    »Doch.«
    »Hände zum Tasten?«
    »Sicher.«
    »Keine Ohren zum Hören?«
    »Natürlich.« Tin Win zögerte. Sollte er U May von seinem Hörerlebnis erzählen? Aber es lag nun schon einige Wochen zurück, und manchmal war er sich nicht mehr sicher, ob er das Ganze nicht phantasiert hatte. Er sagte lieber nichts.
    »Was brauchst du sonst?«, fragte U May. »Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.« Ein langes Schweigen, dann fuhr er fort. »Unsere Sinnesorgane lieben es, uns in die Irre zu führen, und die Augen sind dabei am trügerischsten. Sie verleiten uns, ihnen zu sehr zu vertrauen. Wir glauben, unsere Umwelt zu sehen, und es ist doch nur die Oberfläche, die wir wahrnehmen. Wir müssen lernen, das Wesen der Dinge, ihre Substanz, zu erfassen, und dabei sind die Augen eher hinderlich. Sie lenken uns ab, wir lassen uns gern blenden. Wer sich zu sehr auf seine Augen verlässt, vernachlässigt seine anderen Sinne, und ich meine nicht nur die Ohren oder die Nase. Ich spreche von jenem Organ, das in uns wohnt und für das wir keinen Namen haben. Nennen wir es den Kompass unseres Herzens.«
    Tin Win verstand nicht, was U May meinte, und wollte etwas fragen, aber der Alte ließ ihn nicht zu Wort kommen. Er reichte ihm die Hände, und Tin Win war überrascht, wie warm sie waren. »Du musst lernen, dich darauf zu besinnen«, fuhr U May fort. »Wer ohne Augen lebt, muss wach sein. Das klingt einfacher, als es ist. Er muss jede Bewegung und jeden Atemzug spüren. Sobald ich unachtsam werde oder mich ablenken lasse, führen mich meine Sinnesorgane in die Irre, sie spielen mir Streiche wie freche Kinder, die nach Aufmerksamkeit verlangen. Zum Beispiel, wenn ich ungeduldig bin. Dann möchte ich, dass alles schneller geht, und ich werde zu hastig in meinen Bewegungen, stoße den Tee um oder die Schale mit der Suppe. Ich höre nicht wirklich, was die anderen sagen, weil ich mit meinen Gedanken schon woanders bin. Oder wenn die Wut in mir tobt. Einmal hatte ich mich über einen jungen Mönch geärgert, und kurz darauf trat ich in der Küche ins Feuer. Ich hatte es nicht knistern hören, ich hatte es nicht gerochen. Die Wut hatte meine Sinne verwirrt. Das Problem sind nicht die Augen und die Ohren, Tin Win. Wut macht blind und taub. Angst macht blind und taub. Neid und Misstrauen. Die Welt schrumpft, sie gerät aus den Fugen, wenn du wütend bist oder Angst hast. Für uns genauso wie für jeden, der mit seinen Augen sieht. Er merkt es nur nicht.«
    U May versuchte, sich zu erheben. Tin Win sprang auf, um ihm zu helfen. Der Alte stützte sich auf seine Schulter, und langsam gingen die beiden durch die Halle auf die Veranda. Es hatte zu regnen begonnen. Kein leidenschaftlicher Schauer, ein milder, warmer Sommerregen, und das Wasser tropfte vom Dach direkt vor ihre Füße. U May beugte sich vor, und nun regnete es ihm auf den kahlen Schädel, rann den Hals und den Rücken hinab. Er zog seinen Schüler mit hinaus. Tin Win fühlte das Wasser auf seinem Kopf, es lief ihm Stirn, Wangen und Nase hinunter. Er öffnete den Mund und streckte die Zunge so weit heraus, bis es ihm auf die Spitze tropfte.
    Es war warm und ein wenig salzig.
    »Wovor hast du Angst?«, fragte U May plötzlich.
    »Warum glaubst du, dass ich Angst habe?«
    »Deine Stimme.«
    Tin Win hatte gehofft, sein Zustand wäre U May verborgen geblieben.
    Obwohl Tin Win nach Kräften versuchte, sich in den Alltag des Klosters einzufügen, gab es viele schlechte Tage. Sie waren wie Schwindelanfälle, die kamen und gingen, und Tin Win wusste weder, wodurch sie ausgelöst wurden, noch, wie lange sie anhalten würden. Jeder Schritt fiel ihm schwer an solchen Tagen, und seine Ohren und sein Orientierungssinn betrogen ihn ohne Unterlass. Im Unterricht verstand er kaum ein Wort, jedes Geräusch drang so gedämpft zu ihm, als halte er seinen Kopf unter Wasser. Er lief gegen Pfähle und Wände, stieß Wasserkrüge und Teekannen um und hing die Wäsche so ungeschickt auf, dass sie wenig später im Staub lag. Er fühlte sich einsam und unendlich traurig, Gefühle, gegen die

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