Herzenhören
Jahre lebte er in einem kleinen Kloster im indischen Darjeeling, bis er eines Tages beschloss, nach Kalaw zu gehen, dem Geburtsort von Ma Mu und ihrer Mutter. Von Kalaw hatten sie geträumt, als sie sich heimlich trafen, im Keller, im weitläufigen Garten oder dem Quartier der Hausangestellten. Nach Kalaw wollten sie fliehen mit ihrem Kind. Als er danach rastlos von einem Ort zum anderen reiste, hatte er es nicht gewagt, dorthin zu gehen. Nun hatte er das Gefühl, die Zeit sei reif. Er war über fünfzig, und in Kalaw wollte er sterben.
Tin Win hielt noch immer Su Kyis Hand. Er folgte ihr durch den Raum, und sie knieten sich hin. Er ließ sie los, und sie verneigten sich, bis Hände und Stirn den Holzboden berührten.
Der Alte hörte aufmerksam zu, während Su Kyi die Geschichte Tin Wins erzählte. Zuweilen wippte er ein wenig mit dem Oberkörper oder wiederholte vereinzelte Wörter. Als sie geendet hatte, schwieg er lange. Schließlich wandte er sich an Tin Win, der die ganze Zeit stumm neben Su Kyi gehockt hatte.
U May sprach langsam und in kurzen Sätzen. Er beschrieb das Leben der Mönche, die kein Zuhause kennen und keinen Besitz, abgesehen von ihrer Kutte und ihrer Thabeik, der Schale, die sie beim Betteln mit sich herumtragen. Er erzählte, dass die Novizen jeden Morgen gleich nach Sonnenaufgang durch die Straßen wandern und um Almosen bitten, dass sie dabei schweigend vor einem Haus oder in einer Tür verharren und dankbar entgegennehmen, was immer sie an Spenden bekommen. Er berichtete von seinen Schülern, die er mit Hilfe eines jungen Mönches im Lesen, Schreiben und Rechnen unterrichtete; im Wesentlichen aber versuche er weiterzugeben, was das Leben ihn gelehrt habe: dass der Reichtum eines Menschen die Gedanken seines Herzens sind.
Tin Win kniete regungslos vor dem Alten und hörte konzentriert zu. Es waren nicht die Worte und Sätze, die ihn fesselten, es war die Stimme, die ihn in einen fast magischen Bann zog. Etwas Vergleichbares hatte er noch nie gehört. Weich war sie, ein melodischer Gesang, fein und wohl temperiert wie das Bimmeln der Glöckchen auf dem Klosterturm, die schon ein Luftzug zum Singen brachte. Sie erinnerte ihn an die Laute der Vögel im Morgengrauen und an das ruhige und gleichmäßige Atmen Su Kyis, wenn sie schlafend neben ihm lag. Er hörte die Stimme nicht nur, er spürte sie auf seiner Haut, als ob zwei Hände ihn massierten. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als ihnen das Gewicht seines Körpers anzuvertrauen. Das Gewicht seiner Seele. Je länger der alte Mönch sprach, desto mehr füllte ihn diese Stimme aus, und zum ersten Mal geschah etwas, das in Zukunft noch häufiger geschehen würde: Tin Win verwandelte Töne in Bilder. Er sah, wie der Rauch eines Feuers in die Luft stieg und sich im Raum ausbreitete, wie er in sanften Wellen hin und her wogte, von unsichtbarer Hand geführt, wie er sich kräuselte und tanzte und sich allmählich in nichts auflöste.
Auf dem Weg nach Hause sprachen Tin Win und Su Kyi kein Wort. Er hielt ihre Hand. Sie war warm und weich.
Am nächsten Morgen machten sie sich noch vor Sonnenaufgang auf den Weg zu den Mönchen. Tin Win war aufgeregt, denn Su Kyi hatte ihm gesagt, er würde für einige Wochen im Kloster bleiben. Er würde eine Kutte bekommen und mit den anderen Jungen durch den Ort gehen und um Almosen bitten. Ihm war nicht wohl bei dem Gedanken, er hatte Angst, und diese Angst wurde mit jedem Schritt größer. Wie sollte er sich im Dorf zurechtfinden, er, der selbst auf vertrautem Terrain kaum ein paar Meter laufen konnte, ohne zu stolpern oder sich zu stoßen? Sie solle ihn allein und in Ruhe lassen, hatte er zu Su Kyi gesagt; er wollte im Haus bleiben, auf seiner Schlafmatte oder auf dem Hocker in der Küchenecke, den einzigen beiden Orten, an denen er eine Ahnung von Sicherheit empfand oder sich zumindest nicht bedroht fühlte.
Sie hatte nicht mit sich reden lassen. Tin Win ging widerwillig und bewusst langsam neben ihr hinunter ins Dorf. Su Kyi hatte das Gefühl, ein störrisches Tier hinter sich herzuziehen. Plötzlich vernahmen sie den Gesang der Kinder im Kloster und blieben stehen. Die Stimmen beruhigten Tin Win. Als streichle ihm jemand über das Gesicht und den Bauch. Er verharrte regungslos und lauschte. Unter den Gesang hatte sich das leise Rascheln von Blättern gemischt. Sie raschelten nicht einfach nur im Wind. Tin Win begriff, dass sie, wie menschliche Stimmen, einen eigenen Klang besaßen, dass es auch beim
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