Herzenhören
eine Frau mit einem Topf Reis oder Gemüse, das sie bereits in den ersten Stunden des Tages für die Mönche gekocht hatten. Immer wieder hielt die Prozession inne, die Menschen füllten die Schalen der Novizen und verneigten sich in Demut.
Tin Win klammerte sich an seine Thabeik und den Stock. Er hatte es sich angewöhnt, mit einem langen Stab über die Felder zu wandern, wenn er allein unterwegs war. Er schwenkte ihn vor sich hin und her wie einen verlängerten Arm, mit dem er die Erde abtasten und der ihn vor Kuhlen, Ästen oder Steinen warnen konnte. Der Bambusstock in seiner Hand war dafür kein Ersatz, er machte ihn abhängig von dem Mönch, der vor ihm lief. Es irritierte ihn, ohne Su Kyi durch den Ort zu gehen. Er vermisste ihre Hand, ihre Stimme, ihr Lachen. Die Mönche waren so still. Abgesehen von einem leisen »Danke«, wenn jemand etwas in ihre Schalen füllte, sagten sie nichts, und ihr Schweigen verunsicherte ihn nur noch mehr. Es dauerte knapp eine Stunde, bis Tin Win merkte, dass seine nackten Füße auf dem sandigen Boden allmählich Sicherheit gewannen. Er war nicht gestolpert. Er war nicht gefallen. Weder kleine Unebenheiten noch Löcher in der Straße hatten ihn aus dem Gleichgewicht gebracht. Seine Hände entkrampften sich. Seine Schritte wurden größer und schneller.
Zurück im Kloster half man ihm die Treppe zur Veranda empor. Es war eine steile Treppe ohne Geländer mit schmalen Stufen, und Tin Win wünschte, er könnte sie allein hinaufsteigen. Doch ihn nahmen zwei Mönche an die Hand, ein dritter hielt ihn von hinten fest, und Tin Win tat einen Schritt nach dem anderen. Als würde er laufen lernen.
Sie hockten sich in die Küche auf den Boden und aßen den Reis und das Gemüse. In der Feuerstelle loderten die Flammen, darüber hing ein Kessel, verrußt und verbeult, mit kochendem Wasser. Tin Win saß in ihrer Mitte, er hatte keinen Hunger und war müde. Als hätte er einen Berg bestiegen. Er wusste nicht, was ihn mehr angestrengt hatte, der lange Marsch oder das Vertrauen in den vor ihm gehenden Novizen. Er war so erschöpft, dass er U Mays Unterricht kaum folgen konnte und beim Meditieren am Nachmittag einschlief. Das Lachen der Mönche weckte ihn.
Am Abend lag er lange wach. Erst jetzt erinnerte er sich wieder an die wundersamen Geräusche vom Morgen. Hatte er wirklich all die fremden Töne gehört, oder war es ein Traum gewesen? Wenn ihm seine Sinne keinen Streich gespielt hatten, wo waren die Laute jetzt? Warum konnte er nichts als das Schnarchen der anderen Mönche hören, so sehr er sich auch auf seine Ohren konzentrierte? Er sehnte sich zurück nach jener Intensität, die er ein paar Stunden zuvor empfunden hatte, aber je angestrengter er sich bemühte, desto weniger hörte er, bis am Ende selbst das Schnaufen und Schnarchen, das ihn umgab, nur noch aus weiter Ferne zu ihm drang.
In den folgenden Wochen versuchte Tin Win so gut es ging, den Alltag der Mönche zu teilen. Er vertraute dem Bambusstock mit jedem Tag ein wenig mehr und genoss es, durch den Ort zu gehen, ohne Angst vor einem Sturz oder Unfall zu haben. Er lernte, den Hof zu fegen, Wäsche zu waschen und verbrachte viele Nachmittage mit einem Waschbrett an einem Bottich und knetete die Kutten, bis ihn die Finger vom kalten Wasser schmerzten. Er half beim Abwasch und bewies außergewöhnliches Geschick beim Feuerholzmachen. Er musste ein Holzstück nur einmal kurz befühlen und konnte den anderen sofort sagen, ob sie es über dem Knie oder einem Stein zerbrechen sollten. Bald erkannte er die Mönche nicht nur an ihren Stimmen, sondern an ihrem Schmatzen, ihrem Husten und Rülpsen, an der Art, wie sie über die Bohlen schritten, dem Geräusch ihrer Fußsohlen auf dem Holz.
Am wohlsten fühlte er sich in den Stunden, die er mit U May verbrachte. Die Kinder hockten im Halbkreis um den alten Mönch herum, Tin Win in der ersten Reihe, keine zwei Meter von ihm entfernt. Seine Stimme besaß für Tin Win noch immer jene Kraft, jene Magie, die ihn bei ihrer ersten Begegnung so tief beeindruckt hatte. Und selbst wenn er schwieg und den jungen Mönch sprechen ließ, der ihm assistierte, spürte Tin Win seine Nähe. Sie beruhigte ihn. Sie gab ihm ein Gefühl von Sicherheit, das er sonst nicht kannte. Oft blieb er sitzen, wenn die anderen Kinder aufstanden und gingen, kroch näher an U May heran und bestürmte ihn mit Fragen. Besonders interessierte ihn U Mays Erblindung.
»Warum kannst du nichts sehen?«, fragte Tin Win ihn
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