Herzenhören
er machtlos war. Noch schlimmer war die Angst. Er wusste nicht, wovor er Angst hatte, aber sie war fast immer da, sie verfolgte ihn, wie ein Schatten an einem sonnigen Tag. Manchmal war sie klein, kaum bemerkbar, und er konnte sie in Zaum halten. Dafür rächte sie sich an anderen Tagen, an denen sie ins Unermessliche wuchs, sodass seine Hände vor Angstschweiß klebten und sein Körper zitterte, als hätte ihn Schüttelfrost befallen.
Er wünschte, er hätte auf U Mays Frage eine überzeugende Antwort, aber er hatte nur Bruchstücke, und ob sie zusammen eine Wahrheit ergaben, wusste er nicht. Stumm standen sich die beiden gegenüber. Unter dem Dachsims gurrten Tauben. Nach ein paar Minuten des Schweigens fragte der alte Mönch noch einmal: »Wovor hast du Angst?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Tin Win leise. »Vor der Stille der Nacht. Vor den Stimmen des Tages. Vor dem fetten Käfer, der durch meine Träume kriecht und an mir nagt, bis ich aufwache. Vor Baumstümpfen, auf denen ich sitze und von denen ich falle, ohne je irgendwo aufzuschlagen. Und vor der Angst. Manchmal habe ich einfach nur Angst vor der Angst und kann mich dagegen nicht wehren. Sie ist stärker als ich.«
U May strich ihm mit beiden Händen über die Wangen.
»Jeder Mensch, jede Kreatur hat Angst. Sie umgibt uns, wie die Fliegen den Misthaufen des Ochsen. Tiere schlägt sie in die Flucht, sie reißen aus und rennen oder fliegen oder schwimmen, bis sie sich in Sicherheit wähnen oder vor Erschöpfung tot umfallen. Wir Menschen sind nicht wirklich klüger. Wir ahnen, dass es auf der Welt keinen Ort gibt, wo wir uns vor der Angst verstecken können, und trotzdem versuchen wir es. Wir streben nach Reichtum und Macht. Wir geben uns der Illusion hin, stärker zu sein als die Angst. Wir versuchen zu herrschen. Über unsere Kinder und unsere Frauen, über unsere Nachbarn und Freunde. Herrschsucht und Angst haben etwas gemein: Sie kennen keine Grenzen. Aber mit der Macht und dem Reichtum ist es wie mit dem Opium, das ich in meiner Jugend mehr als einmal probierte. Beide halten ihr Versprechen nicht. Das Opium brachte mir nicht das ewige Glück, es verlangte nur nach mehr. Geld und Macht besiegen die Angst nicht. Es gibt nur eine Kraft, die stärker ist als die Angst. Die Liebe.«
Am Abend lag Tin Win ruhelos auf seiner Bastmatte. Bis auf U May schliefen alle Mönche in einem großen Raum neben der Küche. Sie hatten ihre Matten auf den Holzbohlen ausgebreitet und sich unter ihren Wolldecken vergraben. Durch die Ritzen im Fußboden kroch die Kälte der Nacht. Tin Win horchte. Er hörte einen Hund bellen, und ein anderer antwortete ihm. Und ein zweiter und ein dritter. Das Feuer in der Küche knisterte noch ein wenig, auf dem Dach bimmelten die kleinen Glocken, bis der leichte Wind sich legte und sie verstummten. Tin Win merkte, wie ein Mönch nach dem anderen einschlief, hörte ihren Atem ruhiger und gleichmäßiger werden. Und plötzlich waren alle Geräusche verschwunden, es herrschte eine Stille, so vollkommen, wie Tin Win sie noch nie erfahren hatte. Als wäre die Welt versunken. Tin Win stürzte in einen Abgrund, er drehte sich in der Luft, purzelte, streckte die Arme aus, suchte Halt, einen Ast, eine Hand, einen Schoß, irgendetwas, das seinen Fall aufhalten konnte. Es gab nichts. Er fiel immer tiefer, bis er plötzlich das Atmen neben sich wieder hörte. Und die Hunde. Und das Knattern eines Motorrads. War er kurz eingeschlafen und hatte geträumt? Oder war er wach und hatte für ein paar Sekunden nichts gehört? Hatten seine Ohren versagt? Einfach so?
Sollte er nach dem Augenlicht auch noch den Hörsinn verlieren? Angst überfiel ihn, und er dachte an U May. Es gebe nur eine Kraft, die stärker sei als die Angst, die Liebe, hatte U May gesagt, und Tin Win hatte geantwortet, er wisse nicht, was das sei, die Liebe. Der Alte hatte ihn getröstet. Er würde sie finden. Nur suchen könne er danach nicht.
4
S u Kyi ging über den Hof des Klosters. Im Schatten eines Feigenbaumes standen sechs Mönche und grüßten sie mit einer Verneigung. Sie sah Tin Win schon von weitem. Er saß auf der obersten Stufe der Verandatreppe, ein dickes Buch auf den Knien. Seine Finger flogen über die Seiten, er hielt den Kopf leicht geneigt, und seine Lippen bewegten sich, als spreche er mit sich selber. In dieser Haltung traf sie ihn seit fast vier Jahren jeden Mittag an, wenn sie ihn vom Kloster abholte. Was war in dieser Zeit nicht alles geschehen. Gerade in
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