Herzenhören
Tages das Unternehmen weiterführen. Vermutlich hätte der Vater den Rest der Familie schon nach kurzer Zeit vergessen, wäre nicht alle paar Monate ein Brief aus Kalkutta gekommen, der die erstaunlichen Fortschritte bei der Heilung der Mutter beschrieb und die baldige Rückkehr ankündigte – was U May jedes Mal mit unbeschreiblicher Freude erfüllte. Mit den Jahren wurden die Briefe seltener, und irgendwann begriff U May, dass er als Siebenjähriger auf dem Kai im Hafen Ranguns, dem Schiff nach Indien hinterherblickend, seine Mutter und Geschwister zum letzten Mal gesehen hatte.
Und so zogen ihn die Hausangestellten und Kindermädchen groß, vor allem die Köchin und der Gärtner, deren Nähe er gesucht hatte, seit er laufen konnte. Er war ein stilles und schüchternes Kind, dessen besondere Begabung darin zu liegen schien, dass er die Erwartungen anderer erahnte und alles in seinen Kräften Stehende versuchte, sie zu erfüllen.
Am liebsten spielte er im Garten. Der Gärtner legte ihm in der hintersten Ecke des Grundstücks ein Beet an, das U May mit großer Mühe und Hingabe pflegte. Als sein Vater davon erfuhr, ließ er jede Pflanze einzeln ausreißen und die Erde umgraben. Gartenarbeit sei etwas für Hausangestellte. Oder Mädchen.
U May nahm dies schweigend hin, so wie er alle Anweisungen und Befehle seines Vaters hinnahm und befolgte. Bis zu dem Tag – er war noch keine zwanzig –, als ihm der Vater das Datum der von ihm arrangierten Hochzeit mit der Tochter eines Reeders mitteilte. Die Heirat würde beiden Unternehmen und Familien nützen. Zwei Tage später erfuhr der Vater vom Verhältnis des Sohnes mit Ma Mu, der Tochter der Köchin. Die Geschichte allein hätte ihn nicht sonderlich in Rage gebracht, so etwas kam vor. Auch für die Schwangerschaft des sechzehnjährigen Mädchens hätte sich eine Lösung gefunden. Unverzeihlich und unentschuldbar aber war die Behauptung seines Sohnes, dass er das Mädchen liebe. Der Vater reagierte auf das Geständnis mit einem minutenlangen Lachanfall, der das ganze Haus erfüllte. Noch Jahre später schwor der Gärtner, dass in dieser Zeit hunderte von Blumen verblühten. U May erklärte, dass er unter keinen Umständen bereit sei, die vom Vater ausgewählte Braut zu ehelichen. Noch am selben Tag verschiffte sein Vater die Köchin samt Tochter zu einem Geschäftspartner nach Bombay und weigerte sich, dem Sohn Auskunft über den Verbleib der beiden zu geben. In derselben Nacht verließ U May das Haus, um sich auf die Suche zu machen. Rastlos zog er in den folgenden Jahren durch die britischen Kolonien in Südostasien. Einmal glaubte er, Ma Mu gesehen oder zumindest ihre Stimme gehört zu haben. Es war im Hafen von Bombay, kurz bevor er einen Dampfer nach Rangun bestieg. Er hatte das Gefühl, jemand habe seinen Namen gerufen, aber als er sich umwandte, sah er nur unbekannte Gesichter und etwas entfernt am Kai eine Ansammlung aufgeregt gestikulierender Männer. Ein Kind war angeblich ins Wasser gestürzt.
Mit jedem Monat, der ohne jede Spur von Ma Mu und ihrer Mutter verging, wurde U May verzweifelter und wütender. Es war eine vage, unbestimmte Wut, die er in sich spürte, sie hatte keinen Namen und kein Gesicht und richtete sich in den meisten Fällen gegen ihn selber. Er begann zu trinken, wurde Stammgast in den Bordellen zwischen Kalkutta und Singapur, verdiente beim Opiumhandel in manchen Monaten mehr als sein Vater in einem Jahr, nur um es darauf bei illegalen Wetten wieder zu verlieren. Auf einer Schiffsfahrt von Colombo nach Rangun lernte er einen redseligen Reishändler aus Bombay kennen, der ihm eines Abends an Deck von seiner ehemaligen birmanischen Köchin und dem tragischen Tod ihrer Tochter und deren kleinen Sohn erzählte. Sie waren ins Hafenbecken gefallen und ertrunken, als die junge Frau versuchte, einem Mann zu folgen, der an Bord eines Passagierschiffes ging. Laut Zeugenaussagen hatte sie ihn, vermutlich irrtümlich, für einen Bekannten aus Rangun gehalten. Das Essen der Köchin wurde ungenießbar, und er musste sich bedauerlicherweise von ihr trennen.
U May hatte Su Kyi nie gesagt, was in dieser Nacht mit ihm geschehen war. Als das Schiff Rangun erreichte, ließ er sein Gepäck an Bord und begab sich vom Hafen aus direkt in das Shwegyin-Kloster am Fuße der Shwedagon-Pagode. Er verbrachte dort einige Jahre, reiste dann nach Sikkim, Nepal und Tibet und ließ sich von mehreren berühmten Mönchen in die Lehren des Buddhas einweisen. Über zwanzig
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