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Herzenhören

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Titel: Herzenhören Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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der vergangenen Woche hatte ihr U May noch einmal bestätigt, wie sehr Tin Win sich verändert hätte und wie begabt er sei. Er sei der fleißigste und beste Schüler, besäße eine außergewöhnliche Fähigkeit zur Konzentration und verblüffe ihn oft mit einem Gedächtnis, einer Phantasie und Kombinationsgabe, wie U May sie bei einem bald Fünfzehnjährigen noch nicht erlebt habe. Tin Win konnte den Inhalt von Unterrichtsstunden, die Tage zurücklagen, mühelos und vollständig wiedergeben, er löste Mathematikaufgaben innerhalb weniger Minuten im Kopf, für die andere eine Tafel und eine halbe Stunde Zeit brauchten. Der alte Mönch schätzte ihn so sehr, dass er nach einem Vierteljahr begonnen hatte, ihn am Nachmittag zusätzlich zu unterrichten. Er hatte aus einer Kiste Bücher in Brailleschrift hervorgeholt, die ihm vor vielen Jahren ein Engländer geschenkt hatte, und innerhalb weniger Monate beherrschte Tin Win die Blindenschrift. Er las alles, was sich bei U May über die Zeit angesammelt hatte, und es dauerte nicht lange, da kannte er alle Bücher, die es im Kloster gab; doch dank der Freundschaft U Mays mit einem pensionierten britischen Offizier, dessen Sohn blind geboren worden war und der deshalb eine ganze Braille-Bibliothek besaß, war es möglich, Tin Win mit immer neuen Büchern zu versorgen. Er verschlang Märchen, Biografien, Reisebeschreibungen, Abenteuerromane, Theaterstücke, und sogar philosophische Essays. Fast jeden Tag schleppte er ein neues Buch mit nach Hause, und erst vergangene Nacht war Su Kyi wieder einmal von seinem Murmeln aufgewacht. Tin Win war in der Dunkelheit neben ihr gehockt, im Schoß ein Buch, seine Hände waren über die Seiten geglitten, als streichle er sie. Leise hatte er jeden Satz wiederholt, den seine Finger ertasteten.
    »Was machst du?«, hatte sie ihn gefragt.
    »Ich reise«, hatte er geantwortet.
    Sie hatte lächeln müssen, selbst im Halbschlaf. Vor ein paar Tagen erst hatte er ihr erklärt, dass er Bücher nicht einfach lese, sondern dass er mit ihnen verreise, dass sie ihn mitnehmen würden in andere Länder und auf fremde Kontinente, und dass er mit ihrer Hilfe immer neue Menschen kennen lerne, von denen manche sogar zu Freunden werden würden.
    Su Kyi hatte den Kopf geschüttelt, denn im Leben außerhalb der Bücher war er nicht in der Lage, Freundschaft zu schließen. Wie immer er sich durch die Schule verändert hatte, er blieb weltabgewandt und menschenscheu, und trotz seiner Beteiligung am Unterricht hatte er nur oberflächlichen und sporadischen Kontakt zu den anderen Jugendlichen. Er war höflich zu den Mönchen, aber auch distanziert, und Su Kyi hatte mehr und mehr das Gefühl, dass andere ihn nicht wirklich erreichten, ihn nicht berührten. Abgesehen von ihr und U May vielleicht, aber auch da war sie sich nicht sicher. Nein, Tin Win lebte in seiner eigenen Welt, und manchmal ertappte sie sich bei der Frage, ob er sich wohl selbst genüge und andere Menschen womöglich gar nicht brauche.
    Su Kyi stand am unteren Ende der Treppe und schnalzte mit der Zunge. Tin Win war so in sein Buch vertieft, dass er sie nicht bemerkte. Sie betrachtete ihn, und ihr wurde zum ersten Mal bewusst, dass er nichts Kindliches mehr hatte. Er war den anderen Mönchen über den Kopf gewachsen, hatte die kräftigen Oberarme und breiten Schultern eines Feldarbeiters, aber die feinen Hände eines Goldschmieds. In seinen Zügen konnte sie den jungen Mann erkennen, der er bald sein würde.
    »Tin Win«, rief sie.
    Er wandte den Kopf in ihre Richtung.
    »Ich muss noch etwas auf dem Markt besorgen, bevor wir nach Hause gehen. Willst du mitkommen oder auf mich warten?«
    »Ich bleibe hier.« Er scheute das Gedränge zwischen den Verkaufsständen. Zu viele Menschen. Zu viele unbekannte Geräusche und fremde Gerüche, die ihn verwirrten und stolpern lassen könnten.
    »Ich beeile mich«, versprach Su Kyi und machte sich auf den Weg.
    Tin Win stand auf. Er zog an seinem neuen, grünen Longy, den er mit einem kräftigen Knoten um den Bauch gebunden hatte und ging über die Veranda in die Klosterhalle. Er war auf dem Weg zur Feuerstelle in der Küche, als er ein Geräusch hörte, das er nicht kannte. Zunächst glaubte er, jemand schlüge im Takt einer Uhr auf ein Stück Holz, aber dazu klang es nicht dumpf und hart genug. Ein ganz eigener, monotoner Rhythmus. Tin Win blieb stehen, bewegte sich nicht. Er kannte jeden Raum, jede Ecke, jeden Balken des Klosters, und so einen Laut hatte er

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