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Herzenhören

Herzenhören

Titel: Herzenhören Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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noch nie gehört. Weder hier, noch sonst irgendwo. Wo kam das her? Aus der Mitte der Halle?
    Er lauschte. Stille. Er machte einen Schritt und blieb erneut stehen. Horchte. Da war es wieder, lauter und deutlicher als zuvor. Es klang wie ein Klopfen, wie ein leises, sanftes Pochen. Nach ein paar Sekunden kamen die schlurfenden Schritte der Mönche hinzu. Er hörte ihr Rülpsen und Furzen aus der Küche. Er hörte das Knacken der Holzdielen und die knarrenden Fensterläden. Die Tauben unter dem Dach. Das Knistern des Feuers. Über ihm raschelte es. Er dachte an eine Kakerlake oder einen Käfer, der über das Dach kroch. Was war das für ein Zirpen an der Wand? Fliegen, die sich die Hinterbeine rieben? Von oben segelte etwas herab. Eine Vogelfeder. In den Balken unter ihm schmatzten Holzwürmer. Auf dem Hof hob ein Windhauch Sandkörner in die Luft und ließ sie wieder fallen. In weiter Ferne hörte er das Schnaufen der Ochsen auf den Feldern und das Stimmengewirr auf dem Markt. Ihm war, als würde sich langsam ein Vorhang öffnen, und dahinter käme jene Welt zum Vorschein, die er schon einmal für einige Sekunden entdeckt und dann wieder verloren hatte. Das verborgene Reich der Sinne, nach dem er sich so sehr gesehnt hatte. Die Gabe des Hörens. Er hatte sie wieder entdeckt.
    Und durch all das Knistern, durch das Knarren, Flüstern und Gurren, das Tropfen, Rieseln und Fiepen, klang dieses unverkennbare, unüberhörbare Pochen. Langsam, ruhig und gleichmäßig. Als läge darin der Ursprung, die Quelle aller Laute, Töne und Stimmen auf Erden. Es war kräftig und zart zugleich. Tin Win wandte sich in die Richtung, aus der es kam, und zögerte. Sollte er sich trauen, darauf zuzugehen? Würde er es verscheuchen? Behutsam hob er einen Fuß. Hielt den Atem an. Lauschte. Es war noch da. Er wagte einen Schritt und einen zweiten. Er setzte einen Fuß vor den anderen, vorsichtig, als könnte er es zertreten. Nach jeder Bewegung verharrte er für einige Sekunden, um sich zu vergewissern, dass er es nicht verloren hatte. Es wurde mit jedem Schritt deutlicher. Dann blieb er stehen. Es musste unmittelbar vor ihm sein.
    »Ist da jemand?«, flüsterte er.
    »Ja. Direkt vor deinen Füßen. Gleich fällst du über mich.«
    Es war die Stimme eines Mädchens. Sie war ihm nicht vertraut. Er versuchte vergeblich, sie sich vorzustellen.
    »Wer bist du? Wie heißt du?«
    »Mi Mi.«
    »Hörst du es klopfen?«
    »Nein.«
    »Es muss hier irgendwo sein.« Tin Win kniete sich hin. Nun war es fast direkt neben seinem Ohr. »Ich höre es immer klarer. Es ist ein leises Pochen. Hörst du es wirklich nicht?«
    »Nein.«
    »Mach die Augen zu.«
    Mi Mi schloss die Augen. »Nichts«, sagte sie und lachte. Tin Win beugte sich vor und fühlte ihren Atem in seinem Gesicht. »Ich glaube, es kommt von dir.« Er kroch noch näher an sie heran und hielt seinen Kopf direkt vor ihre Brust.
    Da war es. Ihr Herzschlag.
    Sein eigenes Herz begann zu rasen. Er ahnte, dass er etwas hörte, dass sich ihm etwas offenbarte, was er eigentlich nicht wissen durfte. Er bekam es mit der Angst zu tun, bis sie ihre Hand auf seine Wange legte. Er spürte, wie die Wärme durch seinen Körper floss, und wünschte, dass diese Hand ihn nie wieder loslassen sollte. Er hockte sich aufrecht hin. »Dein Herz, ich höre dein Herz schlagen.«
    »Aus so großer Entfernung?« Sie lachte wieder, aber sie lachte ihn nicht aus. Er hörte es an ihrer Stimme. Es war ein Lachen, dem er sich anvertrauen konnte.
    »Du glaubst mir nicht?«, fragte er.
    »Ich weiß nicht. Vielleicht. Wie klingt es denn?«
    »Wunderschön. Nein, noch schöner. Es klingt wie…«, Tin Win stammelte und suchte nach Worten. »Ich kann es nicht beschreiben. Es ist einmalig.«
    »Du musst gute Ohren haben.«
    Er hätte glauben können, sie verspotte ihn. Ihr Ton verriet ihm, dass sie es nicht tat.
    »Ja. Nein. Ich bin mir nicht sicher, ob es die Ohren sind, mit denen wir hören.«
    Sie schwiegen. Er wollte sie etwas fragen, irgendetwas, nur um ihre Stimme wieder zu hören. »Bist du zum ersten Mal hier?«, fragte er nach einer Pause.
    »Nein.«
    Er wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte Angst, sie könnte aufstehen und verschwinden. Vielleicht sollte er einfach erzählen und erzählen und hoffen, seine Stimme würde sie fesseln. Mi Mi würde zuhören und nicht gehen, solange er spräche.
    »Ich habe dich im Kloster noch nie, noch nie…« er überlegte, wie er sich ausdrücken sollte, »bemerkt«, sagte er

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