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Herzenhören

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Titel: Herzenhören Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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Kopf zu, sie sah das milchige Weiß in seinen Augen und murmelte erschrocken eine Entschuldigung. Tin Win wurde weitergetragen. Hier mussten die Fischstände sein. Er erkannte den salzigen Geruch der getrockneten Fische. Gleich darauf hatte er den bitteren Duft des Koriander in der Nase. Dann den der scharfsäuerlichen Gelbwurzel, der ihm direkt in den Kopf stieg und beim Einatmen auf den Schleimhäuten brannte. Es roch nach Zimt und nach Curry und nach Chilipfeffer. Nach Zitronengras und Ingwer. Dazwischen immer wieder der satte, schwere und süßliche Duft von überreifen Früchten.
    Als er es dann hörte, rempelte ihn niemand mehr. Die hinter ihm Gehenden machten einen Bogen, als ahnten sie, dass nun kein Drängeln und kein Schieben mehr helfen würde. Tin Win horchte. Da war es. So zart und zerbrechlich und so stark zugleich. Er würde es aus allen Geräuschen dieser Welt heraushören. Wie er sich danach gesehnt hatte. Er fühlte ihre Haut in seinen Händen. Ihre Arme um seinen Hals.
    Tin Win folgte dem Pochen, das aus einem abgelegenen Winkel des Marktes kam.
    10
    M i Mi saß am Rande des Marktes neben einem Berg Kartoffeln. In der linken Hand hielt sie einen kleinen, runden Schirm aus Papier, der sie vor der Sonne schützte. Er hatte die dunkelrote, fast braune Farbe der Mönchskutten. Sie trug ihren schönsten Longy, rot mit einem grünen Muster; gestern Abend erst hatte sie ihn fertig gewebt. Die schwarzen Haare waren zu einem Zopf gebunden. Sie hatte ihre Mutter am Morgen gebeten, ihr zwei runde gelbe Kreise auf die Wangen zu malen. Alle älteren Mädchen und Frauen schminkten sich auf diese Weise, doch Mi Mi hatte das bisher immer abgelehnt. Ihre Mutter hatte gelächelt und keine Fragen gestellt. Zum Abschied, als Mi Mi schon auf dem Rücken ihres Bruders saß, hatte Yadana ihrer Tochter einen Kuss auf die Stirn gegeben. Das machte sie jedes Mal, ehe sie sich trennten, aber dieser Kuss war anders gewesen. Mi Mi hatte es gespürt, ohne sagen zu können, was es war.
    Nun hockte sie auf ihrer roten, selbst gewebten Decke und wartete. Eigentlich tat sie seit vier Tagen nichts anderes. Ob sie über den Hof kroch und Hühnereier einsammelte oder hinter dem Haus Erdbeeren pflückte, ihrer Mutter beim Kochen half, Kartoffeln sortierte oder webte. Sie wartete. Auf den Markttag. Auf Tin Win.
    Sie wartete, ohne dabei unruhig zu sein. Warten machte ihr nichts aus. Sie hatte früh gelernt, dass für einen Menschen, der nicht laufen kann, der auf die Hilfe anderer angewiesen ist, Warten etwas Natürliches ist. Geduld war für sie selbstverständlich, und sie staunte über Menschen, denen nie etwas schnell genug gehen konnte. Warten gehörte so sehr zu ihrem Lebensrhythmus, dass es sie verstörte, wenn etwas sofort geschah. Die Zeit des Wartens waren Augenblicke, Minuten oder auch Stunden der Ruhe, des Stillstandes, in denen sie in der Regel mit sich allein war. Und sie brauchte diese Pausen, um sich auf etwas Neues, eine Veränderung vorzubereiten. Sei es der Besuch bei der Tante auf der anderen Seite des Dorfes, oder ein Tag auf dem Feld. Oder der Markt. Sie verstand nicht, warum es ihre Brüder nicht überforderte, mit schnellen Schritten von einem Ort, von einem Menschen zum anderen zu eilen. Wenn es doch einmal geschah, dass sie unverhofft und ohne zu warten zu Freunden auf die nächste Bergkuppe getragen wurde, dauerte es immer eine Weile, bis sie wirklich ankam. Die ersten Minuten saß sie schweigend am neuen Ort. Als würde ihre Seele langsamer durch das Tal reisen. Sie hatte das Gefühl, alles und jeder brauchte seine Zeit, so wie die Erde ihre vierundzwanzig Stunden benötigte, um sich einmal um die eigene Achse zu drehen, oder dreihundertfünfundsechzig Tage, um die Sonne zu umrunden.
    Ihre Brüder nannten sie Schneckchen.
    Am unheimlichsten waren ihr die Züge und die Automobile, mit denen einige der Engländer durch Kalaw und angeblich sogar bis in die Hauptstadt fuhren. Sie fürchtete sich nicht vor dem schrecklich lauten Knattern, mit dem sie durch das Dorf rumpelten, sodass die Hühner die Flucht ergriffen und Pferde und Ochsen scheuten. Auch der Gestank, den sie hinter sich herzogen wie ein Büffel seinen Pflug, machte ihr nichts aus. Es war die Geschwindigkeit, die ihr Angst machte. Konnte man wirklich die Zeit, derer es bedurfte, um von einem Ort, von einem Menschen zum anderen zu gelangen, einfach so verkürzen?
    Mi Mi war froh gewesen, dass vier Tage vergehen würden bis zum Markt, auch wenn sie Tin

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