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Herzenhören

Herzenhören

Titel: Herzenhören Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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dahin wie eine Schnecke auf dem Waldboden. Konnte er nichts tun, damit sie schneller verging? Er fragte U May, der lachte nur.
    »Setz dich und meditiere. Dann verliert die Zeit ihre Bedeutung«, riet er ihm.
    Tin Win war ein junger Meister der Meditation, und diese Fähigkeit hatte ihm in den vergangenen drei Jahren vor allem im Kampf gegen seine Angst gute Dienste erwiesen. Aber jetzt half es nicht. Ob er sich im Kloster zwischen die Mönche setzte, auf eine Wiese oder den Baumstumpf vor dem Haus, ob er die verschiedensten Atemtechniken versuchte und sich mit aller Kraft konzentrierte, es nützte nichts. Was immer er anstellte, wo immer er war, er dachte an Mi Mi. Er hörte ihr Herz. Er hörte ihre Stimme. Er fühlte ihre Haut. Er spürte sie auf seinem Rücken. Er hatte ihren Geruch in der Nase, diesen weichen, süßlichen, unverwechselbaren Duft.
    In der Nacht vor dem nächsten Markttag schlief er nicht. Er hörte, wie Su Kyi sich auf der Matte neben ihm niederließ, sich zur Seite drehte und die dicke Decke bis zu den Ohren hochzog. Kurz darauf hatte sich auch ihr Herz zur Nachtruhe begeben. Es schlug so langsam und gleichmäßig, als würde es niemals aufhören. Sein Herz raste. Ein wildes, ungezähmtes Pochen. Er wusste nicht einmal, was ihn so aufregte, er spürte nur, dass es etwas sein musste, das stärker war als er. Er hatte das Gefühl, dass er dabei war, eine andere, eine neue Welt zu entdecken. Eine Welt, in der man nicht mit den Augen sah. Eine Welt, in der man keine Füße brauchte, um sich fortzubewegen.
    Tin Win überlegte, wie er Mi Mi am Morgen zwischen all den Ständen und Menschen finden sollte. Nach Su Kyis Beschreibungen stellte er sich den Markt vor wie einen Vogelschwarm, der über ein Feld hereinbricht. Ein Gewirr von Stimmen, Geräuschen und Gerüchen. Eng wird es sein, dachte er, und sie werden drängeln und schieben, und niemand wird Rücksicht nehmen. Seltsamerweise machte dieser Gedanke ihm, dem sonst so Menschenscheuen, keine Angst. Er war sich sicher, dass er Mi Mi bald finden würde. Er würde sie am Ton ihres Herzschlags erkennen. Er würde ihrem Geruch folgen. Er würde ihre Stimme hören, selbst wenn sie ihrem Bruder nur etwas ins Ohr flüsterte.
    Tin Win wartete einige Minuten am Straßenrand ohne sich zu bewegen. Dann knotete er seinen Longy neu. Der Schweiß stand ihm in kleinen Perlen auf Stirn und Nase. Die Stimmen des Marktes waren viel lauter und aufdringlicher, als er gedacht hatte. Es klang wie das Rauschen des Baches in der Regenzeit, wenn er sich in einen bedrohlichen Fluss verwandelte, den niemand durchqueren konnte. Tin Win überlegte, woran er sich orientieren sollte. Er kannte die Wege zwischen den Ständen nicht. Er kannte die Fallen des Bodens nicht. Ihm war keine Stimme vertraut. Er wusste nur, dass er keine Angst haben durfte. Angst machte alles nur noch schlimmer. Er musste sich auf seine Ohren, seine Nase, seine Instinkte verlassen, wenn er Mi Mi finden wollte. Er musste Vertrauen haben.
    Er setzte einen Fuß vor den anderen, langsam, aber nicht zaudernd. Er wollte sich vom Strom der Menschen tragen und führen lassen. Jemand rempelte ihn von hinten. Er spürte einen Ellenbogen in den Rippen. »Pass auf, wo du hintrittst«, brüllte ein Mann im Gedränge. Er hörte die Betelnusskauer schmatzen und den roten Saft auf die Straße spucken. Er hörte das Wimmern eines Säuglings. Er hörte die Stimmen und die Herzen, das Schnaufen und Stöhnen, Husten und Röcheln der Menschen um ihn herum, und das Rumoren ihrer Gedärme, und es waren so viele, und es war so laut, dass er sie nicht zu unterscheiden vermochte. So wenig, wie ein Sehender einen einzelnen Wassertropfen in einer Pfütze erkennt. Er wusste, dass es kein Zurück gab, er konzentrierte sich auf jeden Schritt und spürte, wie er mit jeder Bewegung ruhiger wurde. Nicht einmal der Gedanke, dass Mi Mi ihn in diesem Gewühl nicht sehen konnte und er sie erkennen musste, machte ihm Angst. Er würde sie finden. Nur die Hitze machte ihm zu schaffen. Er hatte im Kloster zu wenig getrunken und schwitzte mehr als sonst. Sein Hemd war nass, sein Mund trocken. Er merkte, dass die Menge sich in zwei Richtungen zerteilte, und wollte stehen bleiben, aber der Druck von hinten war zu stark. Er folgte jenen, die nach rechts abbogen.
    »Vorsicht«, schrie eine Frau. Er hörte es knacken und spürte etwas Weiches, Feuchtes an den Füßen und zwischen den Zehen. Er war in Eier getreten.
    »Bist du blind?«
    Er wandte ihr den

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