Herzenhören
Fast wäre er auf einen schlafenden Hund getreten, der im Schatten eines Hauses Schutz vor der Sonne gesucht hatte.
»Den habe ich nicht gesehen, entschuldige«, sagte sie.
»Ich auch nicht«, sagte er. Sie lachten.
Kurz hinter dem Bahnhof dirigierte Mi Mi ihn von der Straße weg. »Ich kenne eine Abkürzung«, sagte sie. Nach ein paar Metern standen sie an einem kleinen Abhang, umgeben von Hibiskusbüschen. Tin Win erkannte sie an ihrem leicht süßlichen Geruch. Er streckte einen Fuß aus und merkte, dass es bergab ging. Nicht steil, aber genug, um das Gleichgewicht zu verlieren.
»Vielleicht ist es rückwärts einfacher«, schlug Mi Mi vor. Sie war es gewohnt, solche Hügel auf den Rücken ihrer Brüder in ein paar schnellen Sprüngen hinunterzusausen. Er drehte sich um und begann vorsichtig hinabzusteigen. Mi Mi hatte mit einer Hand in die Büsche gegriffen und hielt sich an den Zweigen fest. Zusammen glitten sie langsam den Hang hinunter. Und bald hatte Tin Win Steine unter den Füßen.
»Wo sind wir?«, fragte er.
»Auf dem Bahndamm«, erklärte sie ihm. »Wir können auf den Holzbalken zwischen den Schienen laufen. Das machen meine Brüder immer.«
Tin Win blieb stehen. Sie hätte auch Mandalay sagen können. Oder Rangun. Oder London. Der Bahndamm war für ihn bisher in unerreichbarer Ferne gewesen. Er kannte ihn nur aus den Erzählungen der Kinder in der Schule. Sie hatten oft damit geprahlt, wie sie auf den Gleisen tobten, während sie die schwarze Dampflok erwarteten. Wie sie Pinienzapfen oder einen der seltenen Kronkorken auf die Schienen legten oder ihren Mut maßen, indem sie so nah wie möglich an die vorbeifahrenden Züge herankrochen. Zunächst hatte Tin Win davon geträumt, dabei zu sein, später nicht mehr. Der Bahndamm war nicht seine Welt. Er gehörte den Sehenden.
Jetzt ging er selbst zwischen den Schienen und bald hatte er den Rhythmus gefunden, der seine Füße zielsicher mit jedem Schritt auf einen Holzbalken treten ließ. Hier musste er keine Angst haben, gegen einen Baum oder einen Busch zu laufen oder über etwas zu stolpern. Er hatte das Gefühl, eine Leiter hinaufzuklettern, und mit jeder Stufe würde es heller. Und wärmer. Als kröche er aus einer kalten, feuchten Höhle heraus. Er ging schneller, und bald übersprang er einen Balken und fing an zu laufen. Mi Mi sagte nichts. Sie hatte die Augen geschlossen, hielt sich fest und wippte im Rhythmus seiner Schritte wie eine Reiterin. Tin Win machte große, weite Sätze und rannte, so schnell er konnte. Längst achtete er nicht mehr auf den Abstand der Bohlen und hörte nichts als das ungezähmte Pumpen seines Herzens. Ein Trommelwirbel, der ihn anfeuerte. Lauter und immer heftiger, mächtig, wild und gefährlich. Ein Klang, der durch das Tal und über die Berge hallte. Lauter, dachte er, konnte auch eine Dampflokomotive nicht sein.
Als er endlich zum Stehen kam, hatte er das Gefühl, aus einem Traum zu erwachen. »Entschuldige«, sagte er völlig außer Atem.
»Wofür?«, fragte Mi Mi.
»Hattest du keine Angst?«
»Wovor?«
Sie lagen im Gras, und Mi Mi schaute in den Himmel. Es war spät geworden, und die Sonne würde bald untergehen. Neben den Morgenstunden war das für Mi Mi die schönste Zeit des Tages. Das Licht war anders, klarer, und die Konturen der Bäume und Berge und Häuser traten schärfer hervor als zur Mittagszeit. Sie mochte die Stimmen des Abends und den Geruch der Feuer, die vor Einbruch der Dunkelheit vor den Häusern brannten.
»Weißt du überhaupt, wie ein Herz klingt?«, fragte Tin Win.
Mi Mi überlegte, ob sie schon einmal ein Herz hatte schlagen hören. »Einmal habe ich den Kopf an den Busen meiner Mutter gedrückt, weil ich wissen wollte, was da so pocht. Aber das ist schon lange her.« Damals hatte sie geglaubt, in der Brust ihrer Mutter säße ein Tier, das gegen die Knochen klopfe und heraus möchte. An mehr konnte sie sich nicht erinnern.
Tin Win nahm ihren Kopf und legte ihn auf seine Brust.
12
E r fand keinen Schlaf. Nicht nach einem solchen Tag, nicht in dieser Nacht. Auch nicht in der nächsten oder der darauf folgenden. Er lag neben Su Kyi und dachte an Mi Mi. Er hatte drei Nächte durchwacht, dennoch war er nicht müde. Er fühlte sich wacher, seine Sinne, seine Gedanken, seine Erinnerungen waren klarer als jemals zuvor. Einen Nachmittag hatten sie miteinander verbracht. Einen Nachmittag, den er mit sich trug wie ein Kleinod, wie einen Talisman, der ihn beschützen sollte. Er erinnerte
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