Herzenhören
flüsterte.
»Ein kleines Stück nach links. Gut. Geradeaus. Halt.« Sie drückte seine Schultern sanft nach rechts. Er zögerte einen Moment und drehte sich um neunzig Grad. Direkt vor ihnen musste ein Ochse stehen. Er hörte das kräftige Herz schlagen. Es klang wie die dumpfe Trommel, die die Mönche manchmal im Kloster schlugen. Er spürte den feuchten Atem des Tieres auf seiner Haut.
»Weiter?«, fragte er.
»Weiter«, sagte sie.
Er schlurfte, als wagte er nicht, die Füße zu heben. Nach ein paar Schritten zog sie behutsam an seiner linken Schulter, und er bog nach links. Er stieß sich an einem Stück Holz und zuckte zusammen.
»Entschuldigung, der Karren. Ich dachte, wir wären schon daran vorbei. Tut es weh?«
Er schüttelte den Kopf und ging langsam weiter, bis sie wieder an einer Schulter zog und er vorsichtig die Richtung änderte.
»Fuß hoch, da liegt ein Sack Reis.«
Er hob das Bein, ertastete den Sack mit den Zehen und machte einen großen Schritt.
»Gut«, sagte sie und drückte ihn kurz.
Sie gingen weiter. Mi Mi dirigierte ihn mit ihren sanften Bewegungen durch die Straßen, als würde sie ein Boot durch Stromschnellen steuern. Mit jedem Bogen, jeder Wendung, jedem überwundenen Hindernis, wurden Tin Wins Schritte fester und sicherer. Ihre Stimme, so nah an seinem Ohr, beruhigte ihn. Er begann ihren Anweisungen zu vertrauen. Er, der oft nicht einmal seinen eigenen Sinnesorganen glauben konnte, verließ sich auf ihre Augen.
Mit ihrem Longy trocknete sie ihm den Nacken.
»Bin ich zu schwer?«, fragte sie.
»Nein, überhaupt nicht.« Wie hätte Tin Win ihr erklären können, dass er sich mit ihr auf dem Rücken leichter fühlte?
»Hast du Durst?«
Er nickte.
»Dort drüben gibt es frischen Zuckerrohrsaft.« Sie wusste, dass er teuer war, aber ihre Mutter hatte ihr erlaubt, einmal im Monat nach dem Markt einen Saft zu trinken, und sie würde bestimmt nichts dagegen haben, wenn sie Tin Win einlud. Er merkte, wie sie in den Schatten eines großen Baums traten. »Bleib stehen«, sagte sie. »Lass mich runter.«
Er ging in die Knie. Sie glitt langsam von seinem Rücken auf die Erde und ließ sich auf einen Holzschemel nieder, der zu dem Saftstand gehörte. Sie stellte einen zweiten Hocker hinter Tin Win und zog an seiner Hand. Er setzte sich, ohne zu zögern.
Sie saßen unter einem weit ausladenden Banyanbaum, und Mi Mi bestellte zwei Säfte. Er hörte, wie die Zuckerrohrstangen in der Presse zerbrachen und wie ihr Saft in einen Becher floss. Es erinnerte ihn an das Knacken, wenn er in der Küche auf eine Kakerlake trat. Hatte Mi Mi seine Angst bemerkt? War es wichtig? Sie hatte ihn durch das Labyrinth geführt. Sie waren nicht gegen eine Wand gelaufen und in keinen Abgrund gefallen. Sie hatte Brücken gebaut und Mauern eingerissen. Sie war eine Magierin.
Mi Mi trank einen Schluck von ihrem Saft. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass irgendetwas besser schmecken könnte. Sie blickte Tin Win an. Sie hatte nicht geahnt, dass ein Gesicht mit Augen, die nicht sehen können, so viel Glück auszudrücken vermag. Sie lächelte, und er lächelte zurück. Sie merkte nicht einmal, wie seltsam das war.
»Tin Win, was hörst du jetzt? Mein Herz?«, fragte Mi Mi.
»Das auch.«
»Kannst du es mir beibringen?«
»Was?«
»Das Herzenhören.«
»Ich glaube nicht.«
»Bitte, versuch es.«
»Ich weiß nicht, wie es geht.«
»Aber du kannst es doch.«
Tin Win überlegte. »Mach deine Augen zu.« Mi Mi schloss die Augen. »Was hörst du?«
»Stimmen. Schritte. Das Bimmeln von Pferdeschellen.«
»Mehr nicht?«
»Doch, natürlich. Ich höre Vögel und jemanden husten und ein Kind schreien, aber ich höre keine Herzen schlagen.«
Tin Win schwieg. Mi Mi horchte weiter. Nach einigen Minuten verschmolzen die Geräusche, sie wurden so undeutlich wie Bilder, die vor einem tränenden Auge verschwimmen. Sie hörte das Blut in ihren Ohren rauschen, aber nicht ihr Herz, und noch viel weniger das von Tin Win oder das eines Passanten.
»Vielleicht ist es zu laut hier«, sagte Tin Win nach einer langen Pause. »Mag sein, dass wir mehr Ruhe brauchen. Wir machen uns auf den Weg und wenn wir einen Platz finden, wo wir nichts hören bis auf Vögel, den Wind und unseren Atem, dann versuchen wir es noch einmal.« Er kniete sich vor Mi Mi. Sie hielt sich fest, er stand auf, und sie verschränkte die Beine vor seinem Bauch.
Sie liefen eine ruhigere Straße entlang. Ihr Atem in seinem Nacken. Wie leicht sie war.
Weitere Kostenlose Bücher