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Herzenhören

Herzenhören

Titel: Herzenhören Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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Win am liebsten gleich am nächsten Morgen wieder gesehen hätte. So konnte sie in Ruhe an ihn denken und hatte Zeit, sich an jede Einzelheit ihres letzten Treffens zu erinnern. Auch das war ein Vorteil des Wartens; es gab ihr Gelegenheit, sich zu besinnen. Wie immer, wenn sie ihre Gedanken schweifen ließ, entstanden Bilder in ihrem Kopf, die sie mit einer Sorgfalt betrachtete, als wären es Rubine oder Smaragde, die man auf ihre Echtheit prüfen muss. Sie sah, wie Tin Win auf sie zukam. Wie sie auf seinen Rücken kletterte. Wie er später neben ihr saß und vor Aufregung und Freude zitterte. Sie hatte das Gefühl gehabt, dass er sie auf seinen Rücken nehmen und loslaufen wollte. Den unbekannten Lauten und Tönen auf der Spur.
    Sie hatte zu Hause dann lange mit geschlossenen Augen auf der Veranda gesessen und versucht, es Tin Win gleichzutun. Sie lauschte. Sie hörte das Schwein unter dem Haus grunzen. Sie hörte den Hund schnarchen. Sie hörte die Vögel und die Stimmen der Nachbarn, aber nicht ihre pochenden Herzen. Sie wollte Tin Win fragen, ob es einen Trick gäbe und ob er ihr die Kunst des Hörens beibringen könne. Ein bisschen wenigstens.
    Ihrem jüngsten Bruder hatte sie die Geschichte von dem Vogelnest erzählt, aber der hatte sie ausgelacht. Wie sie nur glauben könne, dass irgendjemand ein derart empfindliches Gehör besäße. Vermutlich hatte ihm jemand zuvor gesagt, dass in dem Nest ein Ei lag. Tin Win habe ihr nur imponieren wollen.
    Mi Mi hatte sich darüber geärgert. Mehr über sich als über ihren Bruder. Sie hätte es wissen müssen. Es gab Dinge, die verstanden Menschen, die auf zwei gesunden Füßen durch die Welt liefen, einfach nicht. Sie glaubten, dass man mit den Augen sieht. Sie glaubten, dass man Entfernungen mit Schritten überwinden kann.
    11
    D ie Mittagssonne stand fast senkrecht über dem Marktplatz. Tin Win und Mi Mi suchten Schutz unter dem kleinen Schirm und rückten näher zusammen. Mi Mis Bruder packte die restlichen Kartoffeln in einen Sack. Er wollte vorausgehen und seine Schwester später holen.
    »Ich kann Mi Mi nach Hause tragen, dann musst du nicht zweimal laufen«, sagte Tin Win.
    Der Bruder blickte seine Schwester an, als wolle er sagen: Wie soll dich der Blinde denn den Berg hinaufbringen. Mi Mi nickte ihm zu: »Mach dir keine Sorgen.«
    Ihr Bruder schulterte den Sack Kartoffeln, murmelte etwas Unverständliches und machte sich auf den Weg.
    »Hast du etwas dagegen, wenn wir einen Umweg durch das Dorf machen?«, fragte Tin Win.
    »Wohin du willst«, sagte Mi Mi. »Du musst mich tragen, nicht umgekehrt.« Sie lachte und schlang einen Arm um seinen Hals. Er stand langsam auf. Sie gingen durch eine Seitengasse, in der mehrere Ochsenkarren und Pferdekutschen abgestellt waren. Dazwischen liefen Männer und Frauen, die die Fuhrwerke mit Reis- und Kartoffelsäcken und Körben voller Gemüse beluden. Die Tiere waren unruhig. Die Pferde wieherten und scharrten oder stampften mit den Hufen, die Ochsen schnauften und schüttelten sich, dass das Gebälk ihrer Gespanne ächzte. Sie sind müde von der Sonne und vom Warten, und Hunger haben sie auch, dachte Tin Win. Er hörte ihre Mägen knurren. Die Wagen standen kreuz und quer auf der Straße, und zusammen mit den vielen unvertrauten Geräuschen schienen sie ihm wie eine Mauer, gegen die er jeden Augenblick stoßen musste. Wo war sein Stock, mit dem er sich sonst den Weg ertastete? Der ihm half, die schlimmsten Unfälle zu vermeiden. Der ihn vor Löchern und Gruben, vor Steinen und Zweigen, Häusern und Bäumen warnte, zumindest, wenn er Acht gab. Jetzt hatte er das Gefühl, durch ein Labyrinth zu schleichen, in dem meterhohe Wände ihm den Weg versperrten. In dem Ecken und Kanten lauerten, um ihn zu Fall zu bringen. Ein Irrgarten, in dem er sich nur verlaufen konnte. Wie konnte er Mi Mi heil nach Hause bringen?
    Noch nie hatte ihn seine Blindheit so sehr belastet. Seine Knie gaben nach, und er wankte. Er hatte die Orientierung verloren. Wo war er? Drehte er sich im Kreis? Lief er auf einen Abgrund zu? Woher sollte er wissen, dass nicht der nächste Schritt der letzte sein würde? Gleich würde er keinen Boden mehr unter einem Fuß verspüren, er würde das Gleichgewicht verlieren, nach vorne fallen und in die Tiefe stürzen. Die Tiefe, vor der er sich immer gefürchtet hatte. Die Tiefe, die endlose.
    »Vorsicht. Noch zwei Schritte, und du stößt gegen einen Korb mit Tomaten.« Mi Mis Stimme war neben seinem Ohr. Sie

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