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Herzenhören

Herzenhören

Titel: Herzenhören Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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konnte sie kaum fassen, wie viel Selbstbewusstsein ihre Tochter besaß und mit welcher Sicherheit sie sich fortbewegte. In ihrer Art des Kriechens lag nichts Tierisches oder Demütigendes. Sie trug nur die schönsten selbst gewebten Longys, und obgleich sie damit über den dreckigen Fußboden rutschte, waren sie niemals unansehnlich. Wenn sie sich fortbewegte, behutsam eine Hand, ein Knie vor das andere setzend, strahlte sie dabei so viel Würde aus, dass die Menschen auf dem Markt zur Seite wichen und sie mit großem Respekt behandelten.
    8
    D ie Julia, die ich bisher kannte und von der ich dachte, sie sei mir vertraut, wäre jetzt aufgestanden. Sie wäre empört gewesen. Sie hätte schmale Lippen bekommen. Sie hätte U Ba mit einem wütenden und durchdringenden Blick angeschaut und wortlos ihren kleinen Rucksack geschnappt. Oder sie hätte ihn ausgelacht und erklärt, dass sie das alles für albernes Geschwätz hielt. Sie wäre gegangen. Verärgert, weil sie ihre Zeit vergeudet hatte.
    Ich blieb sitzen. Ich verspürte den Impuls aufzustehen, aber er hatte keine wirkliche Kraft. Er war wie ein Reflex aus einer anderen Zeit. Auch wenn ich in diesem Moment nicht fähig war, klar zu denken oder das Gehörte zu analysieren, so ahnte ich doch, dass es nicht um ein Märchen ging, es sei denn, man hält die Liebe überhaupt für ein Märchen. Und zu diesen Menschen hätte ich mich vor ein paar Stunden noch gezählt. Nun war ich mir nicht mehr sicher. Ich wusste nicht, was ich von U Bas Erzählungen halten sollte, sie überforderten mich. Mein Vater soll als Jugendlicher nicht nur blind gewesen sein, sondern auch noch sein Herz an einen Krüppel verloren haben? Diese Frau soll der Grund sein, warum er uns, seine Familie, nach fast fünfunddreißig Jahren im Stich gelassen hat? Kann eine Liebe fünfzig Jahre Trennung überdauern? Es schien mir absurd. Gleichzeitig musste ich an einen Satz meines Vaters denken: Es gibt nichts, im Guten wie im Bösen, zu dem der Mensch nicht fähig ist. Es war sein Kommentar, als wir erfuhren, dass ein Cousin meiner Mutter, ein gläubiger Katholik, eine Affäre mit der sechzehnjährigen Babysitterin hatte. Meine Mutter konnte es nicht fassen: Das passt doch gar nicht zu Walter, sagte sie immer wieder. Mein Vater hielt dies für einen Irrtum; er schien jedem Menschen alles zuzutrauen, wollte zumindest nichts ausschließen, nur weil er glaubte, jemanden zu kennen. Und er bestand darauf, dass dies nicht die Weltsicht eines verbitterten Pessimisten wiedergebe. Im Gegenteil, hatte er gesagt. Viel schlimmer sei es, von den Menschen Gutes zu erwarten und dann enttäuscht zu sein, wenn sie den hohen Erwartungen nicht entsprächen. Das würde zu Verbitterung und Menschenverachtung führen.
    U Bas Erzählung hatte eine Kraft bekommen, der ich mich nicht mehr entziehen konnte. Mein Vater hatte in der Tat auch im Alter noch ein phänomales Gedächtnis und eine Art siebten Sinn, was die menschliche Stimme betraf. In manchen Eigenschaften und Verhaltensweisen, die U Ba beschrieb, konnte ich allmählich Züge meines Vaters erkennen. Ich hatte das Gefühl, in mir zwei Stimmen zu vernehmen, die miteinander im Streit lagen. Die eine war die der Rechtsanwältin. Sie blieb misstrauisch, sie wollte Fakten sehen. Beweise. Zeugen. Sie suchte nach Schuldigen und einem Richter, der verurteilen konnte oder mit seiner Autorität dem Spuk ein Ende machen würde. Die andere war eine Stimme, die ich bisher noch nicht vernommen hatte. Halt, rief sie, lauf nicht weg. Wende dich nicht ab. U Ba sagt die Wahrheit, auch wenn du sie im ersten Moment nicht erkennst und sie dir fremd und unglaubwürdig erscheint. Hab keine Angst.
    »Sie müssen hungrig sein«, unterbrach U Ba meine Gedanken. »Ich habe eine Kleinigkeit vorbereiten lassen.« Er rief einen Namen, den ich nicht verstand, und kurz darauf kam aus der Küche eine junge Frau mit einem Tablett. Sie verneigte sich und deutete einen Knicks an. U Ba stand auf und reichte mir zwei verbeulte Teller. Auf dem einen lagen drei dünne, runde Fladenbrote, der andere enthielt Reis, braune Soße und Fleischstückchen. Dazu gab er mir eine ausgefranste weiße Stoffserviette und einen verbogenen Löffel aus dünnem Blech.
    »Birmanisches Hühnercurry. Sehr mild. Wir essen es mit indischem Fladenbrot. Ich hoffe, es schmeckt Ihnen.«
    Mein Blick muss sehr skeptisch gewesen sein. U Ba lachte und versuchte, mich zu beruhigen. »Ich habe meine Nachbarin ausdrücklich gebeten, beim Kochen auf

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