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Herzenhören

Herzenhören

Titel: Herzenhören Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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jedes Wort, das sie gewechselt hatten, jede Färbung ihrer Stimme, jedes Pochen ihres Herzens.
    An diesem Nachmittag, mit Mi Mi auf dem Rücken, ihre Stimme in seinem Ohr, ihre Schenkel um seine Hüften, hatte er zum ersten Mal so etwas wie Leichtigkeit, einen Anflug von Freude empfunden. Ein Gefühl, das ihm so unbekannt war, dass er nicht einmal wusste, wie er es nennen sollte. Glück, Frohmut, Spaß, das waren für ihn Vokabeln ohne Inhalt, Worte ohne Bedeutung. Ihm wurde bewusst, wie viel Kraft ihn jeder Tag kostete. Das Erwachen im milchig weißen Nebel. Das Tasten durch eine ihm abgewandte Welt. Er empfand die Einsamkeit, in der er lebte, plötzlich als unerträglich, obwohl es Su Kyi gab und U May. Beide verehrte er, beiden vertraute er. War ihnen unendlich dankbar für die Aufmerksamkeit, die Zuneigung, die sie ihm schenkten. Und dennoch fühlte er eine seltsame Distanz zu ihnen, wie zu allen Menschen, denen er begegnete. Wie oft hatte er im Kloster zwischen den Schülern oder mit den anderen Mönchen um das Feuer gesessen und sich gewünscht dazuzugehören, Teil einer Gruppe, einer Ordnung zu sein. Etwas zu empfinden für die anderen, Sympathie, Wut oder wenigstens Neugierde. Irgendetwas. Er fühlte kaum etwas, außer einer Leere, und er wusste nicht, woran das lag. Selbst wenn sie ihn berührten, einen Arm um seine Schultern legten oder ihn an die Hand nahmen, ließ ihn das gleichgültig. Als hätte sich der Nebel nicht nur vor seine Augen, sondern zwischen ihn und die Welt geschoben.
    In Mi Mis Gegenwart war das anders. Die Taubheit in seinem Inneren war wie aufgelöst. Ihre Nähe hatte ihm Sicherheit verliehen. Ihre Augen hatten für ihn gesehen. Nicht ein Mal hatte er ihren Anweisungen und Beschreibungen misstraut. Mit ihrer Hilfe hatte er sich nicht wie ein Fremder im eigenen Leben gefühlt. Mit ihr gehörte er dazu. Zum Treiben auf dem Markt. Zum Dorf. Zu sich selbst.
    Als hätte er sich dem Leben zugewandt.
    In den folgenden Monaten verbrachten Mi Mi und Tin Win jeden Markttag zusammen, und sie erkundeten Kalaw und seine Umgebung, als hätten sie eine unbekannte Insel entdeckt. Mit der Akribie zweier Wissenschaftler erforschten sie den Ort, Straße für Straße, Haus für Haus. Oft blieben sie stundenlang am Wegrand hocken. Auf den meisten ihrer Entdeckungsreisen schafften sie kaum mehr als eine Straße, ein Stück Wiese oder Feld.
    Mit der Zeit entwickelten sie ein festes Ritual, um die Geheimnisse dieser neuen Welt zu entschlüsseln. Sobald sie ein paar Schritte gegangen waren, blieben sie stehen und verharrten stumm und regungslos. Ihr Schweigen konnte ein paar Minuten dauern, eine halbe Stunde oder auch länger. Es war, als würde sich Tin Win vollsaugen mit Lauten, Tönen und Geräuschen. Anschließend beschrieb er ausführlich, was er hörte, und Mi Mi erzählte ihm, was sie sah. Wie ein Maler skizzierte sie das Bild für ihn, zunächst grob, dann immer genauer und detaillierter. Wenn Bilder und Töne nicht zueinander passten, begab sie sich auf die Suche nach den Quellen der unbekannten Laute. Sie kroch durch Hecken und Büsche, robbte über Beete und unter Häuser, nahm Steinmauern auseinander und setzte sie wieder zusammen. Sie durchwühlte Holzstapel oder grub mit ihren Händen in Wiesen und Feldern, bis sie fand, was Tin Win hörte: schlafende Schlangen und Schnecken, Regenwürmer, Motten oder Mücken. Mit jedem Tag wurde Tin Win die Welt vertrauter. Dank Mi Mis Beschreibungen konnte er Töne und Geräusche zuordnen und mit Gegenständen, Pflanzen oder Tieren verbinden. Er lernte, dass der Flügelschlag eines Schwalbenschwanz-Schmetterlings heller klingt als der eines Monarch; dass die Blätter eines Maulbeerbaumes ganz anders im Wind rauschen als die der Guave; dass das Schmatzen eines Holzwurmes nicht mit dem einer Raupe zu verwechseln ist; dass das Reiben der Hinterbeine bei jeder Fliege anders tönt. Er lernte das Alphabet des Lebens neu.
    Schwieriger war es mit den Tönen, die die Menschen von sich gaben. Tin Win hatte gleich nach seiner Erblindung begonnen, Stimmen zu studieren, sie zu unterscheiden und deuten gelernt. Sie waren für ihn zu einer Art Kompass geworden, der ihn durch die Welt der menschlichen Gefühle führte. Wenn Su Kyi wütend oder traurig war, hörte er es an ihrer Stimme. Ob seine Mitschüler ihm seine Erfolge neideten oder er den Mönchen auf die Nerven ging, ob sie ihn mochten oder nicht, der Ton, in dem sie mit ihm sprachen, verriet es ihm.
    Jede Stimme barg

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