Herzenhören
eben doch geschah, standen sie stumm und ratlos daneben. Mit fragenden Blicken. Als wollten sie sagen: Wir tun doch alles, damit es dir gut geht. Warum genügt das nicht? Sie wollte nicht undankbar sein und erstickte ihre Tränen, so gut sie konnte. Mit der Mutter erging es Mi Mi ähnlich. Yadana bewunderte ihre Tochter, das wusste Mi Mi. Sie war stolz auf die Kraft und die Ruhe, mit der ihr Schneckchen die Behinderung ertrug. Und Mi Mi wollte stark sein, schon um ihre Mutter nicht zu enttäuschen. Und sehnte sich doch nach Augenblicken, in denen sie schwach sein konnte, niemandem etwas beweisen musste. Ihren Eltern nicht. Ihren Brüdern nicht. Sich selber nicht.
Ein paar Tage später saß sie auf der Veranda des Klosters, und ihr Bruder zeigte auf Tin Win, der den Hof fegte.
Mi Mi konnte die Augen nicht von ihm lassen. Sie staunte über die Gewissenhaftigkeit, mit der er einen Platz säuberte, den er selbst nicht sehen konnte. Zuweilen hielt er inne und hob den Kopf. Als röche oder höre er etwas Bestimmtes.
In den folgenden Tagen dachte sie oft an ihn, und beim nächsten Besuch wartete sie so lange auf der Treppe, bis sie ihn wiedersah. Er kam mit einem Arm voll Feuerholz, stieg die Stufen direkt neben ihr hinauf und ging, ohne dass er sie bemerkt hätte, in die Küche. Sie folgte ihm und beobachtete ihn aus der Entfernung. Er zerbrach einige Stöcke und legte sie in die Flammen. Er füllte Wasser in einen Kessel und hängte ihn über das Feuer. Es wirkte so mühelos. Mi Mi fand Tin Win den schönsten Jungen, den sie je gesehen hatte. Er hatte ein schmales Gesicht und eine feine, nicht zu spitze Nase. Mi Mi mochte volle Lippen, und Tin Wins Mund war kräftig, ohne wulstig zu sein. Die kurz geschorenen Haare betonten die hohe Stirn und die schöne Form seines Kopfes. Am meisten aber beeindruckte Mi Mi die ruhige, bedächtige Art, mit der er sich bewegte, die stille Würde, die er ausstrahlte. Als wäre er dankbar für jeden Schritt, den er tat, ohne zu stürzen, für jede Bewegung, ohne sich zu verletzen. Fiel ihm das Leben ohne Augenlicht so leicht, wie es für Mi Mi den Anschein hatte? Oder kostete es ihn genauso viel Kraft, wie sie der Alltag ohne Füße? Würde er verstehen, was in ihr vorgeht, wenn die anderen Kinder zum Eukalyptusbaum rennen? Wenn die Mutter sie voller Stolz anblickt, und Mi Mi sich alles andere als stark fühlt? Wenn ihre Brüder sie vorbeitragen an den Nachbarsmädchen, die mit jungen Männern am Wegrand sitzen. Lieder singend, verschämt Händchen haltend?
Könnte aus ihm ein Seelenverwandter werden? Mehrmals wollte sie ihn ansprechen oder ihm in den Weg kriechen, so dass er über sie stolpern und auf sie aufmerksam werden würde. Sie ließ es bleiben. Nicht aus Schüchternheit, sie war überzeugt, dass es nicht nötig sei. Sie würden sich begegnen, irgendwann. Jedes Leben hatte sein eigenes Tempo, seinen eigenen Rhythmus, und Mi Mi glaubte nicht, dass es möglich war, darauf entscheidend Einfluss auszuüben.
Als Tin Win an jenem Nachmittag im Kloster auf dem Weg zur Küche abrupt stehen blieb, eine halbe Drehung machte, als würde er eine Spur aufnehmen, auf sie zukam und sich vor sie hockte, wunderte sie sich nicht. Sie schaute ihm ins Gesicht und sah milchverhangene Augen, in denen sie mehr lesen konnte als in denen ihrer Eltern und Brüder. Sie sah, dass er wusste, was Einsamkeit war; dass er verstand, warum es in einem regnen konnte, wenn die Sonne schien, dass Trauer keinen Anlass brauchte. Sie war nicht einmal überrascht, als er ihr vom Pochen ihres Herzens erzählte. Sie glaubte ihm jedes Wort.
Sie lebte von Markttag zu Markttag, war zum ersten Mal in ihrem Leben ungeduldig, zählte die Stunden und Minuten, konnte es nicht abwarten, bis sie sich wiedersahen. Ihre Sehnsucht war so groß, dass sie nach ein paar Monaten Tin Win nach dem Unterricht vom Kloster abholen wollte. Würde er sich freuen oder würde sie ihm zur Last fallen? Sie könnte so tun, als sei sie zufällig mit ihrem Bruder vorbeigekommen. Als er sie auf der Veranda warten hörte, kam er sofort zu ihr. Sein Lächeln zerstreute ihre Zweifel. Er freute sich mindestens so sehr wie sie, setzte sich wortlos zu ihr und nahm ihre Hand. Von nun an sahen sie sich jeden Tag.
Unermüdlich schleppte er sie durch das Dorf und über die Felder, die Berge hinauf und wieder hinunter. Er schleppte sie in der sengenden Mittagshitze und im heftigsten Regensturm. Auf seinem Rücken, in seiner Nähe, verschwanden die Grenzen
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