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Herzenhören

Herzenhören

Titel: Herzenhören Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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eine Vielzahl an Ausdrucksformen und dasselbe galt auch für den Herzschlag. Es bereitete Tin Win keine Probleme, einen Fremden beim zweiten oder dritten Wiedersehen an seinem Herzen zu erkennen, auch wenn dieses Pochen nie absolut gleich war. Es verriet viel über Körper und Seele und veränderte sich mit der Zeit oder je nach Situation. Herzen konnten jung oder verbraucht klingen, langweilig, monoton oder geheimnisvoll. Was hatte es zu bedeuten, wenn die Stimme und das Herz eines Menschen nicht zueinander passten, wenn beide eine andere, sich widersprechende Geschichte erzählten? Wie bei U May zum Beispiel. Seine Stimme hatte seit jeher kräftig und stark geklungen, als wäre sie über das Alter erhaben. Tin Win hatte ihn sich immer als große, alte Pinie vorgestellt, mit einem mächtigen Stamm, der selbst die Stürme, die gelegentlich über das Shan-Plateau fegten, nichts anhaben konnten. Einen dieser Bäume, unter denen er früher so gern gespielt und sich geborgen gefühlt hatte. Das Herz aber klang nicht kräftig und nicht stark. Es klang brüchig und schwach, erschöpft und sehr müde. Es erinnerte ihn an die ausgemergelten Ochsen, die er als Kind gesehen hatte, wenn sie an ihrem Haus vorbeizogen, hinter sich eine schwere Karre, beladen mit Reissäcken oder Holzbalken; und er hatte ihnen nachgeblickt, überzeugt, sie würden tot zusammenbrechen, noch bevor sie die Kuppe des Berges erreichten. Warum klang U Mays Stimme anders als sein Herz? Wem sollte er trauen? Der Stimme oder dem Herzen? Fragen, auf die er keine Antwort wusste. Doch mit Mi Mis Hilfe würde er sie enträtseln. Manche zumindest.
    13
    M i Mi erinnerte sich genau, wann sie das erste Mal von Tin Win gehört hatte. Einer ihrer Brüder war vor zwei Jahren für einige Monate als Novize ins Kloster gegangen. Als sie ihn mit der Mutter besuchte, hatte er von einem blinden Jungen erzählt, der am Morgen mit der Thabeik in den Händen gestürzt war. Er hatte, aus Angst das Essen zu verschütten, die Schale nicht losgelassen und war deshalb hart mit dem Gesicht auf die Erde geschlagen, hatte aus Nase und Mund geblutet und auch noch den Reis eines ganzen Tages im Dreck verloren. Äußerst ungeschickt sei er, ein Blinder eben, aber in der Schule erstaunlicherweise der Beste. Die Geschichte hatte sie traurig gemacht, ohne dass sie verstanden hätte, warum. Erinnerte dieses Missgeschick sie an ihre Versuche, ein paar Schritte auf ihren krummen Füßen zu gehen, hinter dem Haus, wo keiner sie sehen konnte? An die Schmerzen und die zwei Schritte, die sie machte, bevor sie auf den staubigen Boden fiel? Sie überlegte, weshalb Tin Win wohl gestolpert war, ob das häufiger geschah und wie er sich überhaupt fortbewegte. Wie mochte er sich gefühlt haben? Im Dreck liegend, das Essen der anderen vergeudet. Sie musste an jenen Tag denken, als sie mit ihren Freundinnen vor dem Haus Murmeln gespielt hatte. Die anderen Kinder bestaunten ihre gläsernen Kugeln, die sie von einem Engländer geschenkt bekommen hatte. Sie rollten sie in kleine Kuhlen, und Mi Mi war stolz gewesen, den anderen zeigen zu können, wie es geht. Plötzlich war ein Mädchen aufgesprungen und hatte gerufen, ihr sei langweilig; sie sollten lieber um die Wette laufen: Wer zuerst beim Eukalyptusbaum ist, hat gewonnen. Sie rannten los. Mi Mi hatte ihre Murmeln eingesammelt und sich nichts anmerken lassen. Sie ließ sich nie etwas anmerken. Die Frage nach dem Warum hatte sie sich nur einmal gestellt und gewusst, dass es darauf nie eine Antwort geben würde. Ihre Füße waren eine Laune der Natur. Es wäre albern gewesen, nach den Gründen zu suchen oder sich dagegen aufzulehnen. Sie haderte nicht mit ihrem Schicksal. Weh tat es trotzdem.
    Schlimmer als der Schmerz war die Distanz, die sie in solchen Momenten ihrer Familie gegenüber fühlte. Sie liebte ihre Eltern und Brüder über alles, doch dass sie nicht wirklich verstanden, was in ihr vorging, quälte Mi Mi fast so sehr wie ihre Füße. Die Brüder sorgten rührend für sie. Abwechselnd trugen sie ihre Schwester aufs Feld oder zu den Seen, schleppten sie durchs Dorf, auf den Markt oder zu Verwandten auf einen entfernten Hof in den Bergen. Das waren keine Opfer für sie, sondern etwas Selbstverständliches, so wie Holzhacken am Morgen, Wasserschleppen oder die Kartoffelernte im Herbst. Sie erwarteten dafür keine Dankbarkeit, natürlich nicht. Wenn Mi Mi dennoch einmal traurig war, wenn sie weinte ohne erkennbaren Grund, was selten, aber manchmal

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