Herzenhören
ihrer kleinen Welt. Sie wanderten und wanderten, als wollte sie all die Jahre nachholen, an denen ihr Horizont aus dem Gartenzaun bestand.
In den Monaten des Monsun, an Tagen, an denen sie im Schlamm zu versinken drohten, blieben sie im Kloster und suchten Zuflucht bei Tin Wins Büchern. Seine Finger flogen über die Seiten, und nun war es an ihm, vor ihren Augen Bilder entstehen zu lassen. Er las vor, sie lag neben ihm und ergab sich seiner Stimme, die so eindringlich war.
Sie reiste mit Tin Win von Kontinent zu Kontinent, sie, die es auf eigenen Füßen nicht bis ins Nachbardorf schaffen würde, umrundete die Welt. Er trug sie die Gangways der Ozeandampfer hinauf, von Deck zu Deck bis zur Brücke des Kapitäns. Beim Einlaufen in die Häfen von Colombo, Kalkutta, Port Said oder Marseille regnete es Konfetti, und es spielte die Bordkapelle. Er trug sie durch den Hyde Park, und auf dem Piccadilly Circus drehten sich die Menschen nach ihnen um. In New York hätte sie beinahe ein Auto überfahren, behauptete Tin Win, weil Mi Mi fortwährend nach oben blickte, anstatt auf den Verkehr zu achten und ihn durch die Straßenschluchten zu dirigieren. Sie lernte, dass ihre Phantasie nur jene Grenzen kannte, die sie ihr selber setzte. In diesen Momenten begriff Mi Mi, dass sie nicht mehr allein war und es nie wieder sein würde. Sie war keine Last. Sie wurde gebraucht.
Tin Win brachte ihr mit großer Geduld das Hören bei. Natürlich waren ihre Ohren nicht so empfindlich wie seine. Sie konnte kein Herz schlagen hören, es sei denn, sie legte ihren Kopf auf seine Brust. Sie konnte auch nicht Libellen an ihrem Summen oder Frösche an ihrem Quaken unterscheiden, aber er lehrte sie, Laute und Stimmen aufmerksam wahrzunehmen, sie nicht nur zu hören, sondern ihnen Beachtung zu schenken.
Wenn jetzt jemand mit ihr sprach, achtete sie zunächst auf den Klang, sie nannte es die Farbe der Stimme. Der Ton war oft vielsagender als die Worte, die gesprochen wurden. Auf dem Markt wusste sie sofort, ob ein Kunde zum Handeln aufgelegt war oder ob sie sich auf ihren Preis für die Kartoffeln einigen würden. Ihre Brüder verblüffte Mi Mi, weil sie am Abend schon nach wenigen Sätzen wusste, wie ihr Tag gewesen war, ob sie froh waren, gelangweilt oder verärgert. Aus Schneckchen wurde Schneckchen, unsere Hellseherin.
Als Mi Mi eines Mittags nicht auf der Treppe vor dem Kloster auf ihn wartete, war Tin Win sofort beunruhigt. Sie hatten sich seit über einem Jahr jeden Tag gesehen, und am Abend zuvor hatte sie nichts davon gesagt, dass sie heute nicht da sein würde. War sie krank? Warum war keiner ihrer Brüder hier, um ihn zu benachrichtigen? Er machte sich sofort auf den Weg zu ihrem Hof. In der Nacht hatte es heftig geregnet, und der Boden war nass und glitschig. Tin Win versuchte gar nicht erst, die Pfützen zu hören, er watete hindurch, überquerte den leeren Marktplatz und eilte den Berg hinauf. Er rutschte mehrmals aus, stürzte und stand auf, ohne sich um seinen durchweichten und verdreckten Longy zu kümmern. Er rannte eine alte Bauersfrau um; in der Aufregung hatte er weder ihre Stimme noch ihr Herzpochen gehört.
Das Haus war leer. Selbst der Hund war weg. Die Nachbarn wussten von nichts.
Tin Win versuchte sich zu beruhigen. Was sollte schon passiert sein? Vermutlich waren sie auf dem Feld und würden bald kommen. Aber sie kamen nicht. Mit der Dämmerung kehrte die Angst zurück. Tin Win hörte sich rufen. Mi Mi. Er rüttelte am Geländer der Treppe, bis es abbrach. Er glaubte, wieder sehen zu können. Ein Riesenfalter stürzte vom Himmel herab wie ein Raubvogel, landete auf der Wiese und kroch auf ihn zu. Tin Win flüchtete auf einen Baumstamm. Rote Punkte kamen auf ihn zugeschossen. Bei jedem Treffer durchzuckte ihn ein elender Schmerz. Er versuchte ihnen auszuweichen, rannte über den Hof, schlug sich Stirn und Kinn blutig. Drei Nachbarsjungen brachten ihn nach Hause.
14
E s war ein Schrei, wie Su Kyi noch nie einen gehört hatte. Er war laut, aber nicht die Lautstärke war das Fremde und Furchterregende daran. Es war kein jämmerlicher Klagelaut, es war ein gewaltiges Aufbäumen, ein Schrei voller Wut und Verzweiflung. Er tat in der Seele weh, nicht in den Ohren.
Sie war sofort wach und drehte sich um. Neben ihr saß Tin Win, den Mund weit aufgerissen und laut brüllend. Sie rief seinen Namen, aber er reagierte nicht. Sie war sich nicht einmal sicher, ob er wach war. Sie packte seine Schultern und schüttelte ihn. Sein
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