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Herzenhören

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Titel: Herzenhören Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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Baumstumpf. Wartete. Bald, hatte sie gesagt.
    Er holte tief Luft und hielt den Atem an. Zählte die Sekunden. Vierzig. Sechzig. Der Druck in seiner Brust wuchs. Neunzig. Hundertzwanzig. Ein Schwindel überkam ihn. Sein Körper gierte nach Sauerstoff. Tin Win gab nicht nach. Er hörte sein eigenes Herz stottern. Er wusste, dass er die Kraft besaß, es zum Stillstand zu bringen.
    In der Ferne sah er den Tod auftauchen. Mit weiten Schritten kam er auf ihn zu. Wurde größer und größer, bis er vor ihm stand.
    »Du hast mich gerufen.«
    Tin Win empfand Angst. Nicht vor der Nähe des Todes, nicht vor seiner Stimme. Angst vor sich selbst. Er hatte ihn gerufen, aber er wollte nicht sterben. Nicht jetzt. Nicht hier. Er war nicht mehr der kleine Junge, der sich aus Furcht verkroch, der keinen anderen Wunsch hatte, als sich aufzulösen, einfach im Nichts zu verschwinden. Er wollte leben. Er wollte zu Mi Mi. Er wollte sie noch einmal spüren, ihren Atem auf seiner Haut, ihre Lippen an seinem Ohr.
    Den Gesang ihres Herzens.
    Er atmete tief ein.
    Er würde herausfinden, was sein Onkel von ihm wollte, er würde tun, was man von ihm verlangte, und dann auf dem schnellsten Wege nach Kalaw zurückkehren.
    Vier Tage später stand Tin Win in der Terrassentür und lauschte. Es hatte zu regnen begonnen. Kein Wolkenbruch, eher ein gleichmäßiges, etwas behäbiges Rascheln und Klopfen. Tin Win mochte den Regen, er empfand ihn als Verbündeten. In ihm hörte er Mi Mi flüstern, ihre Stimme, die so zärtlich sein konnte. Dem Garten und dem Haus verlieh er Konturen, lüftete einen Schleier vom Anwesen des Onkels. Zeichnete Bilder. Das Plätschern klang an jeder Stelle des Gartens anders. Neben Tin Win schlug das Wasser mit einem hohlen Krachen auf das Blechdach, das die Küche mit dem Haupthaus verband. Vor ihm prasselte es auf die Steine der Terrasse, deren Größe er dank des Schauers genau abschätzen konnte. Auf dem Gras klangen die Tropfen viel weicher. Er hörte den Weg zwischen den Beeten, den Büschen und dem Rasen, die sandige Erde verschluckte das Wasser fast ohne einen Laut. Tin Win hörte, wie es auf die großen Palmenblätter fiel und dann die Stämme hinunterströmte, wie es sich über die Blumen ergoss und an den Blüten rupfte und zerrte. Er stellte fest, dass der Garten nicht eben war, das Wasser floss kaum hörbar zur Straße hin ab. Ihm war, als wäre er in seinem Zimmer an das Fenster getreten, hätte die Läden geöffnet und zum ersten Mal über das Grundstück geblickt.
    Der Regen wurde stärker. Das Trommeln auf dem Blechdach schwoll an, und Tin Win trat auf die Terrasse hinaus. Das Wasser war viel wärmer als in Kalaw. Er breitete die Arme aus, die Tropfen waren groß und fett geworden. Sie massierten seine Haut. Er spürte Mi Mi auf seinem Rücken, wollte ihr den Garten zeigen, machte ein paar Schritte und lief los. Er rannte über die Terrasse auf den Rasen, wich einer Palme aus, lief um den Tennisplatz, hüpfte über zwei kleine Büsche, raste in einem großen Bogen zur Hecke, die das Grundstück begrenzte, und wieder zurück zur Terrasse. Und noch einmal. Ein drittes Mal. Das Laufen befreite ihn. Es setzte Kräfte frei, die in den vergangenen Tagen verkümmert waren.
    Der Regen hatte ihn aus seiner Angst gerissen, und mit jedem Tropfen wurde er wacher. Mi Mi war bei ihm. Sie hatte ihn zum Leben erweckt und würde ihn nicht wieder loslassen. Er wusste, dass sie auf ihn wartete. Das Einzige, was Fremdheit schuf zwischen ihnen, war seine Furcht und seine Trauer. U May hatte es ihm gesagt: Angst macht blind und taub. Wut macht blind und taub. Neid und Misstrauen. Es gab nur eine Kraft, die stärker war als die Angst.
    Tin Win lief zur Terrasse. Außer Atem, triefend vor Glück.
    »Tin Win.« Die Stimme des Onkels. Warum war er frühzeitig aus dem Büro gekommen?
    »Doktor McCrae hat Bescheid gegeben. Seine Termine haben sich geändert. Wir sollen schon heute kommen. Jetzt gleich.«
    U Saw schwieg einen Moment und betrachtete seinen Neffen. »Ich habe dich rennen sehen. Bist du wirklich blind?«
    So nah kann man der Wahrheit kommen, ohne es zu ahnen.
    Die Untersuchung dauerte nur wenige Minuten. Eine Krankenschwester hielt ihm den Kopf, ein Arzt mit kräftigen Händen zog die Haut um seine Augen auseinander. Stuart McCrae saß direkt vor ihm und beugte sich weit nach vorn. Sein Atem roch nach Tabak.
    Während der Untersuchung sagte McCrae kein Wort. Tin Win konzentrierte sich auf das Schlagen dieses Herzens und

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