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Herzenhören

Herzenhören

Titel: Herzenhören Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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er bald beherrschen würde, Werkzeuge, die sein Leben sicherer, bequemer, einfacher machen würden.
    Vielleicht war die Distanz, die sie bewirkten, der Preis dafür. Er dachte an U May. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar, hatte er ihn gewarnt. Lerne, das Wesen der Dinge zu erfassen. Dabei sind die Augen eher hinderlich. Sie lenken uns ab, wir lassen uns gern blenden. Tin Win erinnerte jedes Wort.
    Er ging den Rangun-Fluss entlang, an Booten und Kränen vorbei. Um ihn herum schleppten Männer Reissäcke vom Pier in einen Lagerschuppen. Sie gingen gebückt, trugen die Last auf dem Rücken. Ihre Longys hatten sie oberhalb der Knie zusammengeknotet, der Schweiß verklebte ihre Augen. Ihre dunklen Beine waren dürr wie Stöcke, und die Muskeln spannten sich unter dem Gewicht bei jedem Schritt. Kulis bei der Arbeit. Erst als Tin Win die Augen schloss, berührte ihn das Bild. Sie stöhnten. Leise, aber jammervoll. Ihre Mägen winselten vor Hunger. Ihre Lungen gierten nach Luft. Die Herzen klangen ausgelaugt und kraftlos. In manchem Pochen erkannte er das nahe Ende.
    Die Fähigkeit des Hörens hatte er behalten. Sobald er sich in der Finsternis versteckte, entging seinen Ohren nichts. Er wollte die Augen als zusätzliche Hilfe benutzen. Schaden würden sie nicht, so lange er U Mays Warnung beherzigte.
    Tin Win lief weiter flussabwärts und bog dann in eine Seitengasse. Dort war die Luft fast unerträglich. Keine Brise vom Hafen, keine Großzügigkeit von Alleen, auf denen Europäer flanieren. Die meisten der dicht aneinander gebauten Häuser waren aus Holz, die Fenster standen weit offen. Er hatte das Gefühl, in den Keller der Stadt hinabgestiegen zu sein. Es war dreckig, eng und laut, es stank nach Schweiß und Pisse. Im Rinnstein lagen verfaultes Obst, Essensreste, Lumpen und Papier. Überall hockten Menschen auf Schemeln und Bänken auf den viel zu schmalen Bürgersteigen, viele waren bis auf die Straße ausgewichen. Die Erdgeschossläden waren bis unter die Decke mit Waren voll gestopft, mit Stoffballen, Tee, Kräutern, Gemüse, Nudeln und vor allem mit Reis. Tin Win hatte nicht gewusst, dass es so viele verschiedene Sorten gab und dass jede anders roch. Die Passanten lachten und redeten in einer Sprache, die er nicht verstand. Manche starrten ihn an, als wäre er ein Eindringling. Kein willkommener.
    Tin Win überlegte, ob er umkehren sollte. Er machte die Augen zu. Was er hörte, war nicht bedrohlich. In den Küchen brutzelte Fett. Frauen kneteten Teig oder hackten Fleisch und Gemüse. In den oberen Stockwerken lachten und kreischten Kinder. Die Stimmen auf der Straße klangen nicht feindselig.
    Auch die Herzen nicht.
    Er ging weiter. Packte die Geräusche ein, die Gerüche, die Bilder. Alles bekam seinen Platz. Als könnte er die Eindrücke verschnüren und verstauen, um sie später mit Mi Mi zu teilen. Sie sollte nichts versäumen.
    Nach ein paar Häuserblocks war er vom chinesischen Viertel in ein indisches gelangt. Die Menschen waren größer, ihre Haut dunkler. Doch die Luft war nicht besser, die Straßen genauso überfüllt. Ein anderer Kellerraum. Die Essensgerüche waren vertrauter. Curry. Ingwer. Zitronengras. Roter Pfeffer. Die Passanten beachteten ihn nicht. Tin Win stellte fest, dass er an den Herztönen nicht erkennen konnte, ob er durch eine chinesische oder eine indische Straße ging, ob er sich unter Engländern oder Birmanen befand. Sie klangen von Mensch zu Mensch verschieden, verrieten Alter oder Jugend, Freude, Trauer, Angst oder Mut, doch bei Rassen oder Nationalitäten gab es keinen Unterschied.
    Der Fahrer wartete wie verabredet am frühen Abend in der Nähe der Sule-Pagode auf ihn. Sie fuhren an den Seen vorbei, auf denen sich die Wolken in der Dämmerung in einem hellen Rosa spiegelten.
    Zu Hause wartete U Saw auf ihn. Seit der Operation aßen Onkel und Neffe jeden Abend gemeinsam. Beim ersten Mal fühlte sich Tin Win so unwohl, dass er weder den Reis noch das Curry anrührte. Er entschuldigte sich und schob es auf die Hitze. U Saw bemerkte den mangelnden Appetit nicht. Er wollte wissen, was der Neffe am ersten Tag mit seinem, U Saws, Geschenk gemacht hatte. Was hast du gesehen? Wo bist du gewesen?
    Tin Win waren die Fragen unangenehm. Er wollte seine Erlebnisse nicht teilen. Nicht mit U Saw. Sie waren für Mi Mi bestimmt. Andererseits wollte er auch nicht unhöflich oder gar undankbar sein. Er versuchte, seine Eindrücke so kurz wie möglich zu schildern. Am fünften Abend bemerkte

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