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Herzenhören

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Titel: Herzenhören Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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Löffel, ein Messer und eine Gabel. U May hatte ihm im Kloster einmal diese Werkzeuge in die Hände gegeben und ihm erklärt, dass die Engländer mit derartigem Besteck und nicht mit den Fingern äßen. Tin Win hatte sein Curry am Mittag schon mit einem Löffel probiert und erstaunt festgestellt, wie einfach das war.
    U Saw sah mit Erleichterung, dass Tin Win mit Besteck umgehen konnte und dass seine Erblindung ihn nicht daran hinderte, manierlich zu essen. Nicht einmal die Suppe bereitete ihm Probleme. Voller Grauen hatte er sich vorgestellt, dass sein Neffe jeden Abend gefüttert werden müsste, womöglich sabberte oder sein Essen auf dem Tisch verschüttete.
    Die beiden Männer schwiegen. Tin Win dachte an Mi Mi. Er überlegte, wie sie seinen Onkel beschreiben würde. Hatte er Wurstfinger? War er dick, hatte er ein Doppelkinn, wie der Zuckerrohrverkäufer in Kalaw, dessen Herzton ebenfalls so flach klang? Strahlten seine Augen? Oder war sein Blick genauso ausdruckslos wie das Pochen in seiner Brust? Wer sollte ihm, Tin Win, helfen, die neue Welt, die er betreten hatte, zu enträtseln? Die Ärzte? Was würde der Freund des Onkels mit ihm machen? Und darf er, sobald festgestellt war, dass ihm nicht zu helfen ist, wieder zurück nach Kalaw? Mit etwas Glück könnte er gegen Ende der nächsten Woche wieder bei Mi Mi sein.
    Und wenn die Ärzte seine Augen heilten? An diese Möglichkeit hatte Tin Win bisher nicht gedacht. Weder in den vergangenen Jahren noch seitdem er in Rangun war. Warum auch? Er vermisste nichts.
    Tin Win versuchte sich auszumalen, was eine erfolgreiche Operation bedeuten würde. Augen zum Sehen. Scharfe Konturen. Gesichter. Würde er die Gabe des Hörens behalten? Er stellte sich vor, wie er Mi Mi betrachtete: Sie lag nackt vor ihm. Ihr schlanker Körper, ihr kleiner, fester Busen. Er sah ihren flachen Bauch und die Schamhaare. Ihre zarten Schenkel, ihr Geschlecht. Es war sonderbar, aber das Bild reizte ihn nicht. Es konnte nichts Schöneres geben, als mit der Zunge über ihre Haut zu streichen, mit den Lippen ihre Brust zu berühren und dabei zu hören, wie ihr Herz immer wilder tanzte.
    Die Stimme des Onkels unterbrach ihn in seinen Gedanken.
    »Ich habe in den kommenden Tagen viel zu tun und werde kaum Zeit mit dir verbringen können«, sagte U Saw, nachdem er aufgegessen hatte. »Aber Hla Taw, einer der Hausjungen, steht dir jederzeit zur Verfügung. Er wird dich im Garten herumführen oder auch in der Stadt, wenn du möchtest. Sag ihm, was immer du brauchst. Wenn ich es einrichten kann, werden wir am Wochenende zusammen essen. Der Termin mit Doktor McCrae ist am Dienstag.« U Saw zögerte. Hatte der Astrologe ihm vorgeschrieben, wie viel Zeit er mit dem in Not geratenen Familienmitglied verbringen sollte? Er konnte sich an nichts dergleichen erinnern. Um sicher zu gehen, wollte er ihn am Nachmittag wieder aufsuchen.
    »Ich danke dir, U Saw«, antwortete Tin Win. »Ich habe deine Großzügigkeit nicht verdient.«
    U Saw stand auf. Er war mehr als zufrieden. Sein Neffe wusste, was sich gehört. Der Gedanke, dass er, U Saw, ihm das Augenlicht schenken könnte, gefiel ihm, gefiel ihm ganz außerordentlich. Eine solche Geste der Großzügigkeit, die alles andere als selbstverständlich war, würde belohnt werden. Davon war er überzeugt.
    3
    T in Win lag nachts wach und schlief am Tage. Er hatte sich einen Durchfall zugezogen. Der Weg zum Badezimmer wurde immer länger, und er verbrachte Stunden auf den Fliesen vor der Toilette aus Angst, er könnte es nicht rechtzeitig schaffen.
    Überall wimmelte es von Geräuschen, die ihn verspotteten oder ihm Angst machten. Im Bad röchelte und gluckste es in den Wänden und im Boden. Die Spinne unter seinem Bett war gefräßig geworden. Der Todeskampf der Fliegen, das Brechen ihrer Beinchen, die saugenden und schmatzenden Geräusche der Spinne ekelten ihn. Eines Morgens hörte er eine Schlange in seinem Zimmer lautlos über den Boden schleichen. Ihr Herzklopfen verriet sie. Er hörte, wie sie näher kam. Wie sie in sein Bett kroch. Über die Beine. Er spürte ihren kalten, feuchten Körper durch das dünne Laken. Sie zischte neben seinem Kopf. Als wolle sie ihm eine Geschichte erzählen. Stunden später verschwand sie durch das halb offene Fenster. Die Geckos an den Wänden lachten ihn aus. Mehr als einmal hielt er sich die Ohren zu und schrie um Hilfe.
    Hla Taw schob es auf das fremde Essen und die Hitze. Tin Win wusste es besser. Er saß auf einem

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