Herzenhören
sah ihn.
Die Augen schlugen wieder zu. Rums, rums. Türen, die ins Schloss fielen. In der Dunkelheit fühlte er sich sicherer.
Nein, es tat nichts weh. Nein, ihm war nicht schwindlig. Nein, er wollte sich nicht hinlegen. Es war nur zu viel. Zu viel Licht. Zu viele Augen, die ihn anglotzten. Zu viele Erwartungen. Zu viele Farben. Sie irritierten ihn. Das cremige Weiß der Zähne U Saws und ihre braunen Ränder. Das silbrige Glitzern der Chromlampe auf dem Schreibtisch des Arztes. Seine rötlichen Haare und Augenbrauen. Die dunkelroten Lippen der Krankenschwester. Tin Win hatte in einer schwarzweißen Welt gelebt. Farben klingen nicht. Sie glucksen nicht, zirpen nicht, quietschen nicht. Die Erinnerungen an sie waren mit den Jahren verblasst, wie Schriftzeichen auf einem Blatt Papier.
Bitte die Augen noch einmal öffnen. Tin Win schüttelte den Kopf. Nicht einen Spalt.
»Irgendetwas fehlt ihm«, sagte U Saw zum Arzt.
»Das glaube ich nicht. Es ist die Umstellung. Er wird sich daran gewöhnen«, antwortete McCrae.
Sie hatten beide Recht, ohne es zu wissen.
Tin Win saß auf einer roten Backsteinmauer am Ufer des Rangunflusses. Vor ihm lag der Hafen.
Die Augen öffnen. Er musste sich selber ermahnen. Zehn Tage waren vergangen, seit die Welt wieder Konturen bekommen hatte. Zehn lichterfüllte Tage. Zehn Tage voller Bilder. Gestochen scharf. Kunterbunt. Gewöhnt hatte er sich nicht daran.
Tin Win blickte umher. Flussabwärts standen blattlose Bäume aus Stahl, die auf Schienen hin und her polterten. Ihre Haken verschwanden in den Bäuchen der Frachtschiffe und tauchten bald darauf mit Dutzenden von zusammengeschnürten Säcken wieder auf. Gestern hatten sie einen Elefanten an Bord gehievt. Er hatte an Seilen in einem roten Tuch gehangen und mit den Beinen gerudert. Hilflos, wie ein Käfer auf dem Rücken. Vor den Lagerschuppen stapelten sich Kisten und Fässer. Mit schwarzer Farbe stand darauf geschrieben, wohin die Reise ging. Kalkutta. Colombo. Liverpool. Marseille. Port Said. New York.
Im Hafen kreuzten Hunderte von Booten. Einige hatten Segel, andere Motoren, in manchen saß ein einsamer Ruderer. Viele Schiffe waren bis zum Rand voll beladen mit Menschen, Körben und Fahrrädern, so dass bei jeder Welle Wasser über Bord schwappte. Flussaufwärts dümpelten Hausboote, auf denen ganze Sippen lebten. Zwischen den Masten hing Wäsche zum Trocknen, an Deck spielten Kinder. Ein alter Mann lag in einer Hängematte.
Tin Win beobachtete Möwen, die ohne Flügelschlag durch die Luft glitten. Er hatte noch nie so elegante Vögel gesehen. Trotz der leichten Brise, die über das Wasser wehte, war es feucht und heiß.
Tin Win schloss die Augen. Er hörte den Kolbenschlag eines Schiffsmotors. Die Holzwürmer in der Wand des Lagerschuppens neben ihm. Den japsenden Herzschlag der Fische in einem Korb zu seinen Füßen. Das Klatschen der Wellen gegen die Rümpfe. Er konnte am Klang erkennen, ob ein Boot aus Metall oder Holz gebaut war, sogar die Holzart, aus der die Planken gefertigt waren, erkannte er. Die Geräusche machten den Hafen lebendiger als alles, was seine Augen wahrnahmen, es gekonnt hätten. Mit ihnen registrierte er Bilder, eine Flut von Bildern. Jede Sekunde, jede Bewegung der Pupille, jede Drehung des Kopfes brachte ein neues davon. Er betrachtete sie, ohne dazuzugehören, er war ein neugieriger Beobachter, nicht mehr.
Seine Augen konnten für Minuten auf demselben Fleck verharren, auf einem Segel, einem Anker, einem Kutter oder einer Blüte im Garten des Onkels. Er tastete den Gegenstand mit seinen Blicken ab, befühlte ihn, jede Krümmung, jede Kante, jeden Schatten, als könne er ihn in Einzelteile zerlegen und wieder zusammensetzen und dabei hinter die Fassade, unter die Oberfläche schauen. Zum Leben erwecken. Es gelang ihm nicht. Dass er etwas sah – einen Vogel, einen Menschen, ein Fischerboot –, machte diesen Gegenstand weder lebendiger noch brachte es ihm irgendetwas näher. Die Bilder gerieten in Bewegung und blieben dennoch Bilder. Tin Win empfand einen merkwürdigen Abstand allem gegenüber, was er sah. Die Brille war kein Ersatz für Mi Mis Augen. Mit ihnen hatte er mehr als nur Bilder gesehen.
Er kletterte von der Mauer und ging am Hafen entlang. War er undankbar? Was hatte er erwartet? Die Augen halfen ihm im Alltag. Er bewegte sich unbeschwerter, musste keine Angst mehr haben, gegen Stühle oder Wände zu laufen, über schlafende Hunde oder Baumwurzeln zu stolpern. Sie waren Werkzeuge, die
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