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Herzenhören

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Titel: Herzenhören Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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schlief. Sie musste durch das Fenster in das Schlafzimmer gekrochen sein.
    Seither traf U Saw keine wichtige Entscheidung, ohne zuvor einen Astrologen oder Wahrsager zu befragen. Vor zwei Wochen hatte ihm ein Sterndeuter eine persönliche und geschäftliche (den Unterschied hatte U Saw nicht wirklich verstanden, aber auch nicht weiter nachgefragt) Katastrophe prophezeit, die nur dadurch abzuwenden sei, dass er einem Familienmitglied in großer Not helfe. Diese Warnung hatte ihn einige schlaflose Nächte gekostet. Er kannte keinen Verwandten, der besonders bedürftig gewesen wäre. Arm waren sie alle, Geld wollten sie immer, deshalb hatte er den Kontakt zur Familie auch schon vor Jahren abgebrochen. Aber große Not? Schließlich erinnerte er sich vage an einen entfernten Verwandten seiner Frau, von dessen Schicksal er einmal gehört hatte. Sein Vater war gestorben, er selbst hatte über Nacht das Augenlicht verloren, seine Mutter hatte ihn verlassen. Angeblich lebte er bei einer Nachbarin, die sich auch um seine, U Saws Villa in Kalaw kümmerte. Was könnte die Sterne günstiger stimmen, als einem blinden Jungen zu helfen? Er hatte beim Astrologen vorsichtig nachgefragt, ob nicht auch eine Spende, eine großzügige wohlgemerkt, an ein Kloster besagtes Unglück verhindern könnte. Es wäre mit weniger Umständen verbunden. Nein? Der Bau einer weiteren Pagode vielleicht? Oder zwei? Nein. Die Sterne waren eindeutig.
    Tags darauf sandte U Saw zwei seiner zuverlässigsten Assistenten nach Kalaw.
    Er hörte Stimmen im Esszimmer und ging ins Haus zurück. Er blieb überrascht stehen, als er Tin Win sah. Er hatte einen Krüppel erwartet, einen verkümmerten, zurückgebliebenen Jungen, dessen Elend Mitleid erweckte. Doch dieser Neffe war ein kräftiger, gut aussehender junger Mann, der mindestens zwei Köpfe größer war als er selbst und eine sonderbare Selbstsicherheit ausstrahlte. Er trug ein weißes Hemd und einen sauberen, grünen Longy. Hilfsbedürftig wirkte er nicht. U Saw war mehr als enttäuscht.
    »Mein lieber Neffe, willkommen in Rangun. Es freut mich, dich endlich bei mir zu haben.«
    Die Stimme des Onkels irritierte Tin Win schon nach dem ersten Satz. Er konnte sie nicht deuten, sie fand keinen Widerhall in ihm. Sie war freundlich, nicht zu laut, nicht zu tief, aber etwas fehlte ihr, ohne dass Tin Win gleich hätte sagen können, was es war. Sie erinnerte ihn an das Summen unter seiner Zimmerdecke. Und das Pochen des Herzens war noch seltsamer. Es klang ausdruckslos und eintönig. Wie das Ticken der Wanduhr im Flur.
    »Ich hoffe, die lange Reise war nicht zu anstrengend für dich«, fuhr U Saw fort.
    »Nein«, antwortete Tin Win leise.
    »Wie geht es deinen Augen?«
    »Gut.«
    »Gut? Ich dachte, du seist blind.«
    Tin Win hörte die Verwirrung in der Stimme. Er ahnte, dass dies nicht der richtige Augenblick war für ein Gespräch über Blindheit und die Fähigkeit des Sehens.
    »Das stimmt. Ich wollte nur sagen, dass sie nicht wehtun.«
    »Das ist schön. Ich habe leider erst vor kurzem durch Zufall von einem Bekannten in Kalaw von deiner Erkrankung erfahren. Andernfalls hätte ich selbstverständlich früher versucht, dir zu helfen. Ein guter Freund von mir, Dr. Stuart McCrae, ist Chefarzt im größten Krankenhaus von Rangun, er leitet die Augenabteilung. Ich habe veranlasst, dass er dich in der kommenden Woche untersuchen wird.«
    »Deine Großzügigkeit beschämt mich«, sagte Tin Win. »Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll.«
    »Schon gut. Die Medizin macht große Fortschritte. Vielleicht kann dir eine Brille oder eine Operation helfen«, sagte U Saw, dessen Laune sich spürbar besserte. Ihm gefiel der unterwürfige Ton seines Neffen, in dem die zu erwartende Dankbarkeit bereits anklang. »Möchtest du etwas trinken?«
    »Ein wenig Wasser vielleicht.«
    U Saw goss Wasser in ein Glas und stellte es, unsicher, wie er es seinem Neffen geben sollte, mit einem lauten Geräusch auf den Tisch, der neben ihnen stand. Tin Win tastete nach dem Glas und trank einen Schluck.
    »Ich habe eine Hühnersuppe und ein Fischcurry mit etwas Reis vorbereiten lassen. Ich denke, es wird dir schmecken.«
    »Ganz bestimmt.«
    »Brauchst du Hilfe beim Essen?«
    »Nein, danke.«
    U Saw klatschte in die Hände und rief einen Namen. Der Junge kehrte zurück und führte Tin Win zu seinem Stuhl. Er setzte sich und befühlte das Gedeck vor ihm auf dem Tisch: ein flacher Teller mit einer tiefen Schale, daneben eine Serviette, ein

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