Herzenhören
überlegte, ob er daraus wohl die Diagnose erkennen könnte. Das Pochen veränderte sich nicht. Es war nicht unangenehm, nur fremd. Es klang gleichmäßig, zuverlässig. So auch die Stimme. McCrae sprach in kurzen Sätzen, die irgendwo begannen und genauso abrupt endeten, die keine Höhen und keine Tiefen kannten. Nicht unangenehm, nur frei von jedem Gefühl.
Die Diagnose war schnell gestellt. (Tin Win war blind, zur Beruhigung U Saws.) Grauer Star. Äußerst ungewöhnlich in diesem Alter. Vermutlich eine Erbkrankheit. Operabel. Wenn sie wollten, gleich morgen.
Das Schlimmste waren die Spritzen. Mit langen, fetten Nadeln stachen sie ihm über und unter die Augen und in die Nähe der Ohren. Das kalte Metall drang tiefer und tiefer in sein Fleisch. Als wollten sie ihn aufspießen. Dann entfernten sie die Linsen. Tin Win fühlte die Schnitte, aber keinen Schmerz. Sie verlangten nach Nadel und Faden und flickten die Haut wieder zusammen. Wie ein Stück Stoff. Die nächsten zwei Tage trug er einen Verband um den Kopf.
Jetzt klapperten Ärzte und Krankenschwestern mit Scheren und Pinzetten und gaben einander Anweisungen, die Tin Win nicht verstand. Sie würden ihm sein Augenlicht wieder geben, hieß es. Er würde sich wie neugeboren fühlen. Behaupteten sie.
Sie würden ihm die Augenbinden abnehmen, und er würde Licht wahrnehmen, warmes, strahlendes Licht. Er würde Schemen und Konturen erkennen, und in einigen Tagen, wenn seine Starbrille fertig sei, würde er wieder sehen können. Besser, als je zuvor in seinem Leben.
Tin Win war nicht sicher, ob er ihnen glauben sollte. Nicht, dass er ihnen misstraute oder den Verdacht hatte, sie würden ihm wissentlich die Unwahrheit erzählen. Sie meinten, was sie sagten, aber sie sprachen über andere Dinge. »Was gibt es Kostbareres als die Augen?«, hatte Stuart McCrae vor der Operation gefragt und auch gleich eine Antwort gegeben. »Nichts. Man weiß nur, was man sieht.«
Sie taten, als befreiten sie ihn aus einem Gefängnis. Als ob es nur eine Wahrheit gäbe. Tin Win überlegte, ob sie wohl schon einmal den Gesang eines Herzens gehört hatten? Würden Sie ihn erkennen? Was würde ihnen ein Regenschauer sagen? Dass sie Regenschirme brauchen?
Die Schwestern baten um ein wenig Geduld.
Tin Win wollte ihnen erklären, dass er nicht aufgeregt war. Niemand musste sich seinetwegen beeilen. Wenn er ungeduldig war, dann nur, weil er zurück wollte zu einer jungen Frau, die sich auf allen Vieren fortbewegte. Die wusste, dass man nicht nur mit den Augen sah und Entfernungen nicht in Schritten maß. Würden sie das verstehen? Er zog es vor zu schweigen.
»Wir sind soweit.« McCrae löste den Verband. Er rollte ihn auf, und mit jeder Windung wuchs die Spannung im Raum. Selbst McCraes Herz schlug einen Takt schneller als gewöhnlich.
Tin Win öffnete die Augen. Es traf ihn mit der Wucht eines Schlages. Licht. Grelles, gleißendes Licht. Nicht dämmrig, nicht milchig, sondern weiß und hell. Richtig hell.
Das Licht tat weh. Es brannte in den Augen, und er fühlte einen stechenden Schmerz im Kopf. Er kniff die Augen zusammen. Flüchtete in die Dunkelheit.
»Siehst du mich?«, rief der Onkel. »Siehst du mich?«
Nein, das tat er nicht. Musste er auch nicht, er hörte das Herz. Es klang, als würde U Saw sich selber Beifall klatschen. Das zufriedene Gesicht seines Onkels konnte er sich vorstellen.
»Siehst du mich?«, wiederholte U Saw.
Tin Win blinzelte. Als könnte er so die Schmerzen aus dem Licht filtern.
Als gäbe es ein Zurück.
4
D ie Brille passte auf Anhieb. Auf der Nase, hinter den Ohren.
Er sollte die Augen öffnen. Als wäre das so einfach. Nach acht Jahren.
Tin Win wollte warten.
Bitte die Augen öffnen. Er wollte warten, bis Mi Mi vor ihm sitzen würde. Sie, und nur sie, wollte er als Erstes sehen.
DIE AUGEN ÖFFNEN. Ungeduldige Stimmen.
Er musste sie aufstemmen. Mit ganzer Kraft an den Lidern ziehen und zerren, bis sie sich ein winziges Stück öffneten. Einen Spalt breit, nicht mehr. Einen Spalt billigte er ihnen zu. Er lugte daraus hervor wie aus einem Versteck.
Der Schleier war fort. Weggeblinzelt.
Der milchiggraue Nebel war verschwunden.
Alles, was er sah, war deutlich und klar. Seine Sehschärfe versetzte ihm einen Stich, der von den Augäpfeln über die Stirn bis in den Nacken zog. Doktor McCrae und U Saw standen vor ihm. Sie starrten ihn an, stolz und gespannt. Als hätten sie die Welt neu erschaffen, nur für ihn.
Das Gesicht seines Onkels. Ja, er
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