Herzensach - Roman
jeweils aktuelle Datum hineingeschrieben. Keine anderen Eintragungen. Der Schrift nach zu urteilen, hatte sie mit neun oder zehn Jahren begonnen, hatte damals die bereits seit ihrer Geburt vergangenen Tage nachgetragen und das Buch dann bis zum Datum ihres Todes fortgeführt. Ihre Handschrift hatte sich nur wenig verändert.
Manuela Kotschik ließ das Tagebuch enttäuscht sinken. In diesen Aufzeichnungen gab es nichts zu entdecken. Plötzlich schämte sie sich, weil sie es aufgebrochen hatte. Sie legte es in die Schublade zurück, verschloß den Schrank und schlich sich wie eine Diebin mit Herzklopfen ins Erdgeschoß zurück. Sie beeilte sich, in die Küche zu kommen, um notwendige Arbeiten zu entdecken. Aber die Tagebucheintragungen gingen ihr nicht aus dem Kopf. Das Büro des Verwalters stand offen. Jürgen Vietel stand am Faxgerät und zog gerade eine Seite heraus. Sie steckte den Kopf durch die Tür.
»Ist es von dem Schiff?«
»Ja. Ein Zeitungsartikel, der darüber berichtet.«
»Ich wußte gar nicht, daß er Schiffe besitzt.«
Der Verwalter lachte kurz. »Ich begreife das auch nicht, aber er hat im letzten Jahr eine Reederei in Indonesien gekauft, die mit ziemlichen Schrottfrachtern durch die Südsee fährt. Ich dachte, es ginge um ein kompliziertes Steuer- oder Subventionsmodell. Na ja, es geht uns nichts an.« Der Verwalter gab ihr das Fax. »Legen Sie es in die Bibliothek auf seinen Schreibtisch?«
Sie nickte. Da war noch jemand, der die Vorgänge nicht begriff. Es tröstete sie nicht. Sie nahm ihm das Fax aus der Hand und ging. Es war eine nur kurze Meldung. Der Untergang des Schiffes war ungeklärt. Man hatte nur Wrackteile gefunden.
Sie schob das Papier halb unter den Tischkalender, so daß der Gutsherr es sofort sehen würde. Auf dem Kalender war jedem Tag ein leeres Rechteck zugeordnet, und plötzlich glaubte sie, daß die Schrift in Maria Glasers Tagebuch eine endlose Schlange aus kleinen Ziffern gewesen war, so klein, daß man sie mit bloßem Auge nicht erkennen konnte.
Manuela Kotschik trat an die Fenster der Bibliothek und sah die Allee hinunter zur Straße. Maria Glaser mußte ihr Leben lang gezählt haben. Für einen Augenblick wurde am Portal zum Gutshof der Pastor sichtbar. Er schien den Studenten vor sich herzuschieben. Plötzlich begriff sie die Bedeutung des Tagebuchs. Maria Glaser hatte jeden Tag möglich gemacht: Indem sie ihn notierte, hatte sie ihn wie eine Perle auf eine endlose Schnur gereiht. Sie hatte die Welt zusammengehalten.
34
»Was mache ich da!« Rudolf Pedus tastete nach der Halsschlagader des Mädchens, steckte den kleinen Finger in eines ihrer Ohren, zog ihn heraus und betrachtete ihn.
»Wenn da Blut dran ist, dann hat sie einen Schädelbruch«, erklärte er, als würde er tagtäglich Menschen mit Bratpfannen auf den Kopf schlagen. Schließlich zog er noch prüfend ein Augenlid hoch.
Lisa war nur betäubt.
Er griff in die Tasche ihrer Küchenschürze und zog das Messer heraus. »Dachte ich es mir doch. Es gibt kaum jemanden im Dorf, der ohne Waffe herumläuft.« Er kroch unter die Liege und begann Jakobs Fesseln durchzuschneiden. »Es ist erstaunlich, wie die Herzensacher bewaffnet sind. Zwei, drei Gewehre, Pistolen, Säbel haben sie alle in ihren Schränken und Truhen.«
Jakobs Fesseln lösten sich. »Und wie ist es mit Kanonen?«
»Selten.« Der Pastor kam unter der Liege hervor.
Jakob beugte sich vor, um den Spannverschluß der Fußklammern zu öffnen, und kletterte von der Liege herab.
»Es gibt zwei Fragen, die Sie mir beantworten müssen.«
Der Pfarrer rümpfte die Nase. »Auch ein Pfarrer zweifelt manchmal am Glauben. Lassen Sie uns lieber schnell von hier verschwinden.«
»Nein, so meine ich das nicht.«
Rudolf Pedus blickte auf Lisa herab. »Ich möchte nicht mehr hiersein, wenn sie aufwacht.« Er nahm Jakob am Arm und schob ihn vor sich her durch das Haus bis zum Ausgang.
»Woher wußten Sie, daß ich hier bin?« fragte Jakob.
»Ich wußte es nicht. Ich sah Sie beim Tischler um die Ecke biegen, aber da waren Sie nicht. Ich stieg einfach zum Bungalow hinauf. Es war so ein Gefühl.«
»Jedenfalls haben Sie mich gerettet.«
»Ich habe selten Gelegenheit, jemanden vom Kreuz zu schneiden.«
»Ich weiß nicht, was dieser Schlachter vorhatte. Aber vielleicht hätte er mich umgebracht. Wissen Sie, was er von mir wollte?«
»Ersparen Sie mir Details von Perversionen.«
»Nein, ich sollte gestehen, ich sei ein Weinstein.«
»Nehmen Sie es ihm nicht
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