Herzensach - Roman
dort eine Stadtwohnung für die Familie einrichtete.
Das Personal zog sich in die Küche zurück und verbarrikadierte die Tür, denn die Älteren unter ihnen kannten die Alkoholexzesse der beiden Alten aus früheren Zeiten. Obwohl die beiden Streitenden sogar mit den mittelalterlichen Waffen aus dem Speisesaal aufeinander losgingen, waren sie doch zu betrunken, um einander etwas anzutun. Zwischendurch brachen sie immer wieder in Lachanfälle aus und gefährdeten bei wiederaufflammendem Kampf nur jene, die ihnen zufällig in den Weg kamen. Nach einer langen Zeit der Stille hatte Manuela sich schließlich durchs Haus geschlichen, um ein wenig aufzuräumen. Die fünfundsechzigjährige Berenice hatte sie schlafend im Speisezimmer auf dem Tisch entdeckt. Von Friedrich war nichts zu sehen gewesen, so daß sie annahm, er sei hinausgegangen, um bei einem Spaziergang einen klaren Kopf zu bekommen. Manuela hatte die Tür zum Speisesaal geschlossen und allen Bediensteten Bescheid gesagt. Leise versuchten sie nun, im Haus wieder Ordnung zu schaffen. Viele Gläser, Flaschen, ein paar Stühle und ein Gemälde, das Porträt Friedrichs als junger Mann, waren zu Bruch gegangen.
Vielleicht wäre Jans Großvater zu retten gewesen, hätte man ihn zu diesem Zeitpunkt entdeckt. Die Annahme, er mache einen Spaziergang, wurde bestärkt, weil er im Haus nicht zu finden war. Erst nach einigen Stunden begann man sich Sorgen zu machen. Man zählte die Pferde im Stall, durchsuchte den Garten, schickte jemanden zum Gasthof. Alles ohne Ergebnis.
Schließlich weckte man vorsichtig Berenice, die noch immer schnarchend auf dem Speisetisch lag. Nach einigen Minuten des Fluchens schwenkte sie die Beine vom Tisch, um darauf schwankend sitzen zu bleiben. Blöde betrachtete sie das Personal, bis sie schließlich die an sie gerichtete Frage verstand. Sie grinste und hob das Tischtuch. Friedrich lag mit blauem, aufgeblähtem Gesicht in seinem Erbrochenen. Berenice begriff die entsetzten Gesichter des umstehenden Personals nicht, bis sie selbst hinabsah. Niemand wollte den Versuch unternehmen, Friedrich wiederzubeleben. Wahrscheinlich war er auch schon zu lange tot. Berenice begann zu schluchzen und dann zu lachen und brachte damit zum Ausdruck, was alle fühlten: Erleichterung, in Zukunft nicht mehr Friedrichs Launen ausgesetzt zu sein.
Es war eine fröhliche Beerdigung gewesen.
Die Haushälterin hatte den Schrank ihrer toten Vorgängerin geöffnet. Viel hinterließ sie nicht: drei Kleider, Schürzen, zwei schwarze Röcke, einige weiße Blusen – alle schon sehr alt –, zwei Pullover, in denen die Motten saßen; in einer Schublade altmodische Unterwäsche, Mieder, die sie wahrscheinlich noch als junges Mädchen getragen hatte. Dann eine Schublade mit Fotos. Die meisten der abgebildeten Personen kannte Manuela Kotschik nicht. Ein Foto im silbernen Rahmen von Jan, als er etwa sechzehn Jahre alt war, mit einer Widmung für Maria zum Geburtstag. Ein Album mit Ansichtskarten. Es waren nicht viele – mehr hatte sie im Lauf ihres Lebens nicht erhalten. Die meisten waren Urlaubsgrüße der van Gruntens an ihre Haushälterin. In einer weiteren Schublade lag ein schwerer, in ein Leinentuch eingewickelter Gegenstand. Es war eine große, mattschwarze Pistole – zweifellos geladen und funktionsfähig. Manuela Kotschik kniff die Lippen zusammen, sah zu dem Sarg und nickte mit dem Kopf. Wie sie erwartet hatte, schien es eine verborgene Seite der Toten gegeben zu haben. Unter der Waffe kam ein in Leder gebundenes Tagebuch mit einem kleinen Schloß zutage.
Die Hände der Haushälterin zitterten, als sie es zu öffnen versuchte. Zweifellos war sie einem Geheimnis auf der Spur, das nicht nur die Pistole erklärte. Das Tagebuch widerstand ihren Versuchen, die Lasche mit dem eingearbeiteten Schloß einfach aufzureißen. Ein Schlüssel war in keiner der hastig durchwühlten Schubladen zu finden. Manuela Kotschik nahm die Zahnbürste vom Waschtisch und schob sie als Hebel unter das kleine Schloß. Das Buch öffnete sich und fiel ihr aus der Hand. Sie kniete sich auf den Boden und schlug es auf. »Maria Glaser« und »Mein Tagebuch« stand handgeschrieben auf der ersten Seite. Sie blätterte um, blätterte weiter und weiter und begriff nicht, was dort stand. In sauberer, kindlicher Handschrift hatte die alte Haushälterin mit Zahl, Name des Tages, Monat und Jahr jeden Tag ihres Lebens notiert. Hintereinander, Zeile für Zeile, Seite für Seite hatte sie täglich das
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