Herzensach - Roman
übel. Er denkt ein wenig einfach. Die Befürchtung, ein Nachkomme der Weinsteins könne auftauchen und das Tal in Besitz nehmen, weil der Gutsherr keinen Erben hat, ist Unsinn. In den letzten zweihundert Jahren haben die van Gruntens alle Weinsteins um die Ecke gebracht, trotzdem geraten sie bei jedem Gerücht, es könnte noch einen geben, in Panik. Es ist das schlechte Gewissen.«
»Aber was hat Wilhelm Weber damit zu tun?«
»Er will dem Dorf und besonders dem Gutsherrn nur einen Gefallen tun. Er denkt, Jan würde dann seine Frau zu ihm zurückschicken.«
»Kann er das?«
»Er kann's befehlen. Sie ist eine geborene Herzensacherin. Und die tun, was der Gutsherr sagt.«
»Im Ernst?«
»Sie verstehen wenig von den Dorfbewohnern.«
»Immerhin versteh ich schon, daß man Herzensach besser nicht mit einem Idyll verwechselt.«
Sie hatten die Straße erreicht, und Jakob blieb stehen. »Ich danke Ihnen, daß Sie mich gerettet haben.«
»Sie können sich revanchieren. Ich brauche Ihre Hilfe. Kommen Sie mit.«
»Kann ich noch bei der Tischlerei hineinschauen? Ich suche Katharina.«
Der Pastor lachte. »Katharina sucht man nicht, die findet man.«
»Wozu brauchen Sie meine Hilfe?«
»Im Brunnen. Es ist etwas im Brunnen, was ich nicht allein schaffe.« Plötzlich holte er Lisas Messer aus der Jackentasche und drückte es dem Studenten in den Rücken.
»Es tut mir leid, aber ich habe keine Zeit, auf Sie zu warten. Kommen Sie zur Kirche.«
»Aber, was soll ich ...« Jakob schüttelte den Kopf. Ein Kirchenmann bedrohte ihn mit einem Messer. Er konnte eine solche Handlung unmöglich ernst nehmen und blieb stehen. »Ich glaube nicht ...« Er stieß einen leichten Schrei aus. Der Pfarrer hatte zugestochen. Zwar hatte das Messer nur seine Haut geritzt, doch das genügte, den Studenten zu überzeugen.
»Was soll ich tun?«
»Sie sollen jetzt sofort die Maschine im Brunnen spielen.«
»Das heißt, Ihre Frau ...«
Der Pastor nickte. »Es muß jetzt sein.«
»Aber Sie wissen, ich kann doch gar nicht ...«
»Es gibt keine andere Möglichkeit mehr. Sie stirbt. Und ich glaube, Sie können es.«
Jakob versuchte Rudolf Pedus zu überzeugen, daß er freiwillig mitkommen und sein Bestes auf dem seltsamen Instrument geben würde, doch der Pastor vertraute nur dem Messer im Rücken des Studenten. Er verbarg es geschickt im Ärmel seiner Jacke und trieb ihn so in Richtung Kirche vor sich her. Sie begegneten niemandem, und Jakob war sich auch nicht mehr sicher, ob man ihm helfen würde, wenn er darum bat. Andererseits hatte er ehrlich vor, in den Brunnen zu steigen und zu spielen. Der Pfarrer mußte völlig verzweifelt sein, wenn er zu solchen Mitteln griff, um seiner sterbenden Frau ihren letzten Wunsch zu erfüllen. Vielleicht würde es Jakob ja sogar gelingen, den Blechen im Schacht eine Melodie zu entlocken. Der Student sah zum Gasthaus hinüber, ob man sie vielleicht beobachtete. Der Pfarrer verstärkte seinen Druck.
»Weitergehen!«
»Schon gut.«
»Sie haben es wahrscheinlich nicht bemerkt, aber seit Sie im Dorf sind, haben sich die Dinge beschleunigt.«
»Wie meinen Sie das?«
»Alles geschieht schneller. Plötzlich begegne ich Menschen, deren Augen hin- und herzucken, deren Atem heftiger, kürzer wird. Dörfler, die sonst bei der Begegnung für einen kleinen Schwatz stehenbleiben, wechseln nur noch einen kurzen Gruß. Andere, die einander grüßten, heben nur noch flüchtig die Hand. Ich selbst spreche mit größerem Tempo, spüre plötzlich Ungeduld. Und wenn man genau hinsieht, wächst das Korn auf den Feldern, das Gras auf den Weiden schneller. Das ist nicht gut.«
Jakob lächelte. »Das liegt an mir?«
»Sicher. Ich wußte vorher nicht, welche Gefahr von einem Fremden wirklich ausgeht. Aber dies ist eine. Er beschleunigt alle Vorgänge. Die Bauern kommen zu mir und sprechen schneller. Atemlos berichten sie mir von den absurden und schrecklichen Vorgängen hinter den Mauern ihrer Häuser. Aber dadurch habe ich auch gemerkt, daß sie meinen Rat gar nicht wollen. Stellen Sie sich das vor, über all die Jahre hinweg habe ich geglaubt, die Bauern wollten meinen Rat!« Er lachte, und Jakob sah sich nach ihm um. Rudolf Pedus standen Tränen in den Augen.
»Was ist los mit Ihnen?« (Andere Fragen stellten sich nicht?) »Es war alles umsonst.« (Die Antwort auf alle Fragen!) Der Pfarrer hatte das Messer sinken lassen.
»Sie sollten diese perversen und entsetzlichen Geschichten einmal hören, die man mir erzählt.
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