Herzensach - Roman
betrachtete ihre Umgebung, wandte den Kopf in alle Richtungen, alles blieb sichtbar. Sie rutschte zum Geländer und schlug mit der Faust dagegen, anschließend legte sie die Finger leicht auf das Holz. Das war eine Erklärung: Wenn man die Treppe hinaufging, lösten die Schritte eine leichte Erschütterung aus, die sich auf den Handlauf übertrug. So sollte es gewesen sein.
Aber was war mit der Auflösung der Umgebung? Wurde sie vielleicht blind? Sie wußte nicht, wie es ist, wenn man den grauen Star oder eine andere Augenkrankheit bekam. Aber sie erinnerte sich an eine der Landarbeiterfrauen, die davon gesprochen hatte, bei Migräneanfällen nicht mehr richtig sehen zu können. Höchstwahrscheinlich war es einfach die Überlastung. Der Jahresputz, der vor zwei Wochen begonnen hatte und bei dem alle Zimmer, auch die unbewohnten, von oben bis unten gesäubert wurden, hatte sie angestrengt. Da half es eben auch nicht, daß sie wie jedes Jahr zusätzlich zwei Frauen engagiert hatte.
Sie erhob sich langsam, immer darauf gefaßt, daß etwas Unerwartetes geschehen, irgend etwas verschwinden würde. Nichts dergleichen geschah. Sie stieg die letzten Stufen zur Dachkammer hinauf. Sie war nicht abergläubisch, aber die Ursache ihrer Verwirrung darin zu sehen, daß die alte Haushälterin noch immer in ihrer Kammer lag und nicht unter der Erde, war verführerisch. Zwar hatte man sie bereits in einen Sarg gelegt und diesen geschlossen, doch wenn ein Toter nicht schnell genug unter die Erde kam, mußte Ungewöhnliches geschehen. Vielleicht war es die Rache der alten Haushälterin ... ihre Seele ... ein wenig mußte sich Manuela Kotschik am Tod von Maria Glaser schuldig fühlen. Das war ein guter Gedanke. Und dieses Gefühl, da sei etwas, was sie zu erledigen habe, trieb sie in die Dachkammer. Normalerweise wurde bis zur Beerdigung gewartet, bevor man die persönliche Hinterlassenschaft durchsah. Aber Erben gab es nicht. Und nun dauerte alles viel zu lange, und das nur, weil Maria Glaser als gebürtige Herzensacherin Anspruch darauf hatte, auf dem hiesigen kleinen Friedhof bestattet zu werden. Die Friedhofsarbeiter und Sargträger mußten in Weinstein engagiert werden, und auf dem dortigen Friedhof herrschte zur Zeit Hochbetrieb. Die Weinsteiner, dachte Manuela Kotschik, waren schon immer sehr empfindlich und starben schnell, schneller als anderswo. Herzensacher würden die mit einer Beerdigung verbundenen Arbeiten niemals selbst vornehmen. Das gehörte sich nicht. Aber es gehörte sich auch nicht, eine Leiche so lange im Haus zu haben. Wahrscheinlich krabbelten schon die Maden darin. Leichte Übelkeit ergriff sie.
Manuela Kotschik unterdrückte ihre Angst und öffnete die Kammer. Der Sarg neben dem Bett ließ nicht mehr viel Platz. Sie zwängte sich vorbei, zog das angelehnte Dachfenster etwas weiter auf, und im selben Augenblick fragte sie sich, warum man die Tote nicht auf einer Rutsche aus dem Fenster gekippt hatte. Das Bild des fallenden Körpers stand ihr deutlich und selbstverständlich vor Augen, aber zugleich schüttelte sie sich bei diesem Gedanken vor Entsetzen. Früher wäre ihr so etwas überhaupt nicht in den Sinn gekommen. Es hatte auch wenig Gelegenheit gegeben. Seit sie im Gutshaus lebte, waren erst zwei Menschen gestorben. An die erste Beerdigung erinnerte sie sich kaum noch. Es war einer der Verwalter gewesen, der vor über dreißig Jahren – sie war gerade erst als Küchenhilfe eingestellt worden – von einem winterlichen Ausritt nicht zurückkehrte. Der Sturz vom Pferd auf den hartgefrorenen Boden hatte ihm den Schädel gespalten. Sie hatte die Leiche nicht gesehen. Der zweite Tote, sah man einmal von den Landarbeitern in den Vorderhäusern ab, war Jans Großvater, Friedrich van Grunten, gewesen. Daran konnte sie sich allerdings noch gut erinnern. Zwei Tage bevor der Siebenundsiebzigjährige im Schlaf an Erbrochenem erstickte, war seine Frau Berenice, die von ihm getrennt in Holland lebte, zu Besuch gekommen. Friedrich hatte seine Frau gar nicht eingeladen, und als sie eintraf, nicht empfangen wollen. Bis zum Abend war er ihr aus dem Weg gegangen. Doch am nächsten Morgen hatten die beiden sich einen lautstarken Streit geliefert und schon am Vormittag zu trinken begonnen. Gegen Mittag waren sie schon hemmungslos betrunken, lachten und stritten sich zugleich und jagten einander durchs Haus. Sohn und Enkelsohn beruhigten alle Anwesenden und suchten selbst das Weite. Sie fuhren zu Jans Mutter nach Berlin, die
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