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Herzensach - Roman

Herzensach - Roman

Titel: Herzensach - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunter Gerlach
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letzten Sprosse, doch seine Fußspitzen fanden keinen Halt. Plötzlich hatte er das deutliche Gefühl, als griffe jemand nach seinen Beinen. Obwohl er sich einredete, es sei wahrscheinlich ein Seil, das irgendwo herabhing und ihn berührt hatte, packte ihn die Furcht. Er spürte, wie ihn seine Kräfte verließen. Nur mit großer Mühe gelang es ihm, sich allein mit den Armen so weit an der Leiter hinaufzuziehen, bis er sich mit den Knien zwischen den Sprossen abstützen konnte. Auch die plötzliche Vorstellung, der Brunnen sei vielleicht weitere fünfzig Meter tief, hatte ihm den Angstschweiß auf die Stirn getrieben.
    Er stieg hastig hinauf zu der Plattform, lehnte sich gegen die Wand und beruhigte seinen Atem. Immerhin konnte er sich in seinem Gefängnis bemerkbar machen. Er brauchte nur die Bleche ertönen zu lassen. Ob allerdings jemand käme, um ihm aus dem Brunnen zu helfen? Wahrscheinlich erst, wenn er stundenlang Lärm machte und die Bauern deshalb nicht einschlafen konnten. Er sah zur Uhr, es war Mittagszeit. Es war unsinnig, in Panik zu geraten. Er war noch nicht einmal eine Stunde hier unten. Und der Pfarrer hatte die Tür nur abgeschlossen, weil er in Sorge war, daß Jakob es sich anders überlegen und nicht spielen würde. Rudolf Pedus war der einzige, der ihm von Anfang an mit Offenheit und Freundlichkeit entgegengekommen war. Wenn er jemandem vertrauen konnte, dann ihm.
    Jakob würde warten. Er setzte sich auf die Treppe, machte es sich so bequem wie möglich, schlief sogar kurz ein. Doch als er auf die Uhr blickte, war es bereits Abend.
    Er stand auf, schüttelte seine vom Schlaf auf den Treppenstufen steifen Glieder. Es war unmöglich, daß ihn der Pfarrer vergessen hatte. Irgend etwas mußte geschehen sein, das ihn abhielt zurückzukehren. Vielleicht war seine Frau bereits gestorben, als er ins Haus ging. Jakobs Spiel auf den Blechen also nicht mehr notwendig. Und in seiner Trauer hatte Rudolf Pedus nicht mehr an den Studenten gedacht. So mußte es sein. Jakob würde sich bemerkbar machen. Er zog am ersten Hebel. Er rührte sich nicht. Er hängte sich an den nächsten. Nichts geschah. Keiner der Hebel ließ sich bewegen.
    Die Maschine war nicht funktionstüchtig.
    Der Brunnen war ein Gefängnis. Nichts anderes.

35
    Seit Tagen spürte Thomas Timber, wie die Wut größer wurde. Zuerst hatte sie sich nur gelegentlich unter seine Gedanken gemischt, ohne ihm selbst aufzufallen. Dann hatte sie immer häufiger begonnen, seine Redeweise einzufärben, ihr jenen allzu bekannten und zugleich fremden Klang zu geben. Reagierte jemand auf die gleiche Weise, so verschaffte es ihm eine kurze Befriedigung. Schreckten die Menschen vor seinem barschen Ton zurück, so tat es ihm sofort leid. Doch seine Worte im Zaum zu halten gelang ihm nicht. Die Wut blockierte einen Teil seines Gehirns, und sie wuchs weiter. Schon morgens erwachte er mit ihr. Schärfte sie am Frühstückstisch an seiner Frau. Irgend etwas fand sich immer, was ihm nicht gefiel. Die Wut ließ seine Augen schmal werden. Sie schien auch die Form seines Körpers zu verändern. Seine übliche Kleidung paßte sich morgens vor dem Spiegel nicht mehr an, hing unwillig an ihm herab und beulte an Stellen, die sie sonst umschmeichelte.
    Wenn sie wuchs, spürte Thomas Timber die Wut so konkret, als wäre sie eine große, harte Geschwulst in seinem Körper. Manchmal drückte sie ihm auf die Kehle, so daß er heftig schlucken oder ein Stück altes, hartes Brot essen mußte, um sie wieder freizubekommen.
    Angefangen hatte alles mit dem Studenten. Dann war die Wut auf den Wirt, seine Gesellen, Katharina und seine Frau dazugekommen. Alle hatten sich auf eine provozierende Weise verhalten.
    Wenn man die Wut nicht eindämmte, wenn das nicht gelang, dann züngelte sie in grauen Flammen, grau wie der jahrealte Dachbodenstaub, mit roten, heißen Rändern aus dem Haar. Flammen, die nicht verbrannten, sondern so scharf waren, daß sie schmerzlos ins Fleisch schnitten.
    Bestimmt sah man es auch schon seinem Gang an!
    Thomas Timber fluchte vor sich hin, als er auf das Bauernhaus zuging, dort drinnen würde er weitere Nahrung für seine Wut finden.
    Das Fachwerkhaus hatte einen schiefen vorgebauten Windfang aus Holz. Thomas Timber blieb stehen und versuchte sich vor der Außentür zu beruhigen. Er betrachtete den eisernen Kotabstreifer, der neben der Tür aus dem Boden ragte. Um Zeit zu gewinnen, schabte er seine Stiefel daran ab. Überrascht registrierte er, daß etwas

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