Herzensach - Roman
dort mit einem Schrei die Hausmauer entlangstürmte und dahinter verschwand. Der Gestalt nach mußte es ihr Schwiegervater gewesen sein. Zum Glück hatte sie ihn wohl nicht getroffen. Es war ihr unmöglich, ihm nachzugehen. Denn diese strategisch so wichtige Position aufzugeben, wäre ihr wie eine Kapitulation erschienen.
Dieter Vietel hatte mit seiner Last den Gasthof erreicht. Er lachte bei dem Gedanken an die beiden Schüsse. Er konnte es den Einwohnern nicht verdenken, wenn sie auf jemanden zielten, der mit einem Toten auf der Schulter durch das Dorf spazierte. Jetzt hatte der Junge, dessen Namen Dieter gar nicht kannte, eine Kugel im Körper und damit eine besser nachvollziehbare Todesursache. Auf der Party, von der er kam, hatte man den Grund seines plötzlichen Ablebens nicht erkennen können. Er war einfach stumm zusammengebrochen. Mitten im Gespräch. Zuerst hatten alle an einen Scherz geglaubt. Doch er kam nicht wieder hoch. Keiner der Gäste ließ sich wegen des Toten die Stimmung verderben. Man schob den Jungen in eine Abstellkammer und feierte weiter. Noch bevor der Arzt gekommen war, hatte Dieter die Idee gehabt, mit der Leiche seinen Bruder zu überraschen, und sie gestohlen. Er folgte einer bestechenden Logik: Ein Toter war das einzige Geschenk, mit dem er zugleich Rache üben konnte. Das Geschenk würde seinen Bruder in Schwierigkeiten bringen und am Ende ihn selbst wieder ins Gefängnis. Aber warum nicht? Vielleicht gelang es ihm diesmal, hinter Gittern alles richtig zu machen. Zwar kamen ihm nun, nach dem langen Transport, Zweifel an der Folgerichtigkeit seiner Gedanken, was er aber nur auf den sinkenden Alkoholgehalt seines Blutes zurückführte. Dem konnte abgeholfen werden. Mit der Leiche auf der Schulter durchquerte er die Gaststätte. Seinen Bruder entdeckte er nicht. Die Gäste starrten ihn an und verstummten nach und nach völlig. Er setzte den Toten auf den nächstbesten Stuhl und bestellte an der Theke Bier und ein kleines Glas mit sechzigprozentigem Alkohol. Danach drehte er sich um und grinste in die sprachlose Menge.
»Das ist der Falsche!« sagte einer und deutete auf die Leiche. Es löste die Erstarrung der Menge. Einige kamen näher, um dem Toten ins Gesicht zu sehen. Der Wirt stellte dem Fremden das Bier hin und schickte seinen Zeigefinger hinterher. »Du kannst hier trinken, soviel du willst, aber den da schaffst du raus. So was gibt's bei mir nicht!«
»Nur über deine Leiche, was?« wieherte ein Thekennachbar.
»Schon gut. Ich bringe ihn solange vor die Tür.«
Dieter Vietel ließ sich einen Strick geben, band den Toten auf dem Stuhl fest und setzte ihn draußen vor der Tür ab.
»Gute Werbung«, sagte er, als er wieder hereinkam.
45
Der Gutshof war keine Insel. Zwar bemerkte man nichts von der nächtlichen Unruhe im Dorf, doch auch hier wichen die Bewohner und Besucher von ihren Gewohnheiten ab. Niemand schlief. Katharina trank Alkohol. Ausnahmsweise. Ein zweites Glas Wein in Gegenwart eines Mannes. Aber der Übermut leichter Trunkenheit stellte sich nicht wie sonst ein. Sie stand am Fenster der Bibliothek und sah die Lichter im Dorf. Nichts war wie sonst. Sie hatte eine Verunsicherung im Verhalten des Personals gespürt und eine ungewohnte Aggressivität bei Jan van Grunten. Vielleicht war alles wie immer, nur sie selbst nicht?
Sie schüttelte den Kopf, und die Stimme des Gutsherrn riß sie aus ihren Gedanken.
»Was gefällt dir nicht?«
(Die Welt spaltete sich.)
»Wußtest du, was der Tischler in seiner Hütte am See macht?«
Die Produkte des Tischlers hatten sie nicht überrascht, sie paßten zu diesem Mann, der in der Werkstatt keine Gelegenheit ausließ, eine Zote anzubringen. Verblüfft dagegen war sie über das Geständnis des Studenten gewesen. Er liebte sie.
»Ich denke, er angelt«, sagte Jan. Er trank Alkohol. Ausnahmsweise. Eine zweite Flasche in Gegenwart einer Frau, die sich ihm noch nicht ergeben würde. Der Übermut leichter Trunkenheit hatte sich längst eingestellt. Er unterdrückte sie.
»Nein«, sagte sie und versuchte sich an die Worte des Studenten zu erinnern. Es war unmöglich, daß er sie liebte. Hatte sie nicht von Anfang an alles getan, um ihn abzuschrecken?
»Stimmt«, sagte der Gutsherr nachdenklich. Sein Bild von Katharina hatte sich von einem Tag auf den anderen verändert. Woran lag es, daß er sie jetzt bewunderte? »Sag nichts, ich bekomme es heraus. Er ... er schnitzt. Nicht wahr?«
»Ja.« Der Student hatte ihr sogar einen
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