Herzensach - Roman
oder warum sie so reich sind.« (Er wußte es ganz genau!) »Jede Familie hier im Ort kann ihre Geschichte auf einen Piraten zurückführen. Ist dir niemals aufgefallen, wie sie heißen? Die meisten haben französische, spanische und holländische Nachnamen. Sie haben es alle noch im Blut. Es sind schlechte Bauern. Nur gut, wenn es darum geht, zu lügen und zu betrügen.«
»Dann könnte der Pfarrer recht haben?«
»Ach was! Natürlich geht man im Dorf einer Prügelei nicht aus dem Weg. Doch was der Pfarrer prophezeit, ist bloß ein Wunschtraum. Vielleicht weil er selbst an der Angel seines Blutes hängt. Einer seiner Vorfahren war ein Folterknecht.«
Er lachte kurz, ging zurück zum Tisch und schenkte sich nach. »Als ich sechzehn war, gab mein Vater mir die Familienchronik zum ersten Mal zum Lesen. Du kannst mir glauben, ich war erschrocken über alles und zugleich fasziniert. Was für eine Welt, in der sich jeder nehmen konnte, was ihm gefiel. Gold, Ländereien, Frauen.« Er trank das Glas in einem Zug aus und spürte, daß er dabei war, sich vom Gutsherrn in einen Piraten zu verwandeln. Er suchte einen anderen Text. »Und weißt du, was ich mit der Chronik gemacht habe? Ich habe sie vor zwei Jahren, beim Anbau des Pferdestalles, heimlich des Nachts in die Grundmauer eingelassen. Weg damit, bloß weg damit, habe ich gedacht.« Er lachte hilflos und ließ sich wieder in seinen Sessel fallen. »Eine kindische Tat, nicht wahr? Denn nichts wird dadurch ungeschehen.«
Er sank in sich zusammen und wartete auf ihre Reaktion. Tat er ihr leid? Warum kam sie nicht zu ihm, legte tröstend eine Hand auf seine Schulter?
(Die Welt spaltete sich nicht.)
Katharina löste sich vom Fenster. Er tat ihr leid. Sie überlegte, ob sie zu ihm gehen und ihm tröstend eine Hand auf seine Schulter legen sollte. Statt dessen setzte sie sich und schüttelte den Kopf. »Es war gut, eine symbolische Tat, ein Versuch, sich zu befreien. Es gibt glückliche Völker, bei denen das funktioniert.« Sie dachte, daß sie genauso gehandelt hätte.
»Nein. Ich fürchte, es war etwas ganz anderes. Erst jetzt wird es mir bewußt: Es war die Vernichtung von Beweismaterial oder das Vergraben eines Schatzes. Wie auch immer, es war genau das, was ein Pirat tun würde.«
Katharina hielt nichts von der Theorie des freibeuterischen Erbgutes. »Einen Piraten habe ich mir aber immer anders vorgestellt. Wilder, brutaler. Mindestens ein Macho muß er sein. Ich glaube, da fehlt dir zum Glück einiges.«
»Vielleicht bin ich nur in deiner Gegenwart ein guter Mensch? Du verwandelst mich. Und schon bin ich einer dieser Langweiler, denen man nichts Böses zutraut?«
Katharina gefiel das Gespräch nicht mehr, und die Intensität seines Blickes irritierte sie. Jan war ihr oft zu zweideutig. Der Student ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Sie ärgerte sich, daß sie ihn allein zurückgelassen hatte.
Sie hatte das Angebot, in einem der Gästezimmer zu übernachten, angenommen, und nun überlegte sie, wie sie sich am geschicktesten zurückzog. Wie konnte sie am besten Müdigkeit andeuten, die nicht vorhanden war? Plötzlich lachte sie laut über ihren Gedanken. Sie war schon dabei, ihr Benehmen und Denken vermeintlichen Gutsherren-Konventionen anzupassen.
Jans Gesicht zeigte Verunsicherung.
»Es ist nichts«, sagte sie schnell. »Ich will nur schlafen gehen.«
Er sprang auf. »Ich bringe dich nach oben. Frau Kotschik schläft möglicherweise schon. Ich hoffe, die Mädchen haben alles hergerichtet.«
Er ging voraus. In der Halle hörte sie ein schabendes Geräusch. Es schien von draußen zu kommen. Sie blieb stehen. Jan sah sich um, und sie legte den Finger an den Mund.
»Ein Tier«, sagte er. »Ein Igel vielleicht.«
Sie schüttelte den Kopf und ging zur Tür.
»Nicht! Warte.« Jan wollte sie zurückhalten, aber sie hatte schon den Riegel zurückgeschoben und streckte den Kopf hinaus. Jemand kletterte an der Hausmauer empor, nutzte geschickt die unregelmäßige Beschaffenheit der aus Feldsteinen errichteten Wand.
»Hallo, was machen Sie da?!«
»Oh, Mist«, antwortete die Gestalt in dem dunklen Trainingsanzug. Sie verharrte, drehte dann den blonden Kopf mit der Kurzhaarfrisur nach unten ins Licht der Laterne über dem Eingang.
Frau Wischberg?«
Katharina sah fragend Jan an. Er grinste und hob die Schultern. »Ich habe keine Ahnung.«
Dorothee Wischberg kletterte langsam zurück, sprang den letzten Meter ins Gras. Dann wischte sie sich die Hände an der
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