Herzensach - Roman
Kasten barg die Prothesensammlung aller seiner Vorfahren. Er nahm ein komplettes Holzbein heraus, einen hölzernen Unterarm, eine Hand aus Kunststoff, ein weiches, seltsam geformtes Teil, von dem nur noch er wußte, daß es als Ersatz für eine im Krieg verlorene Hinterbacke gedient hatte. Schließlich fand er auch einen uralten Handhaken und eine grobgeschnitzte Stelze für einen verlorenen Unterschenkel. Einen einzelnen Daumen aber fand er nicht, obwohl er der festen Überzeugung war, so etwas hätte es in der Familie schon gegeben. Otto Timber sah enttäuscht auf den leeren Grund der Truhe, und plötzlich überkam ihn wieder seine Starrheit. Er hörte und sah seine Umgebung, aber es war ihm nicht möglich, darauf zu reagieren. Die hölzerne Stelze fiel ihm aus der Hand, sein Denken setzte aus, schickte einen letzten Blitz, und er zuckte noch einmal mit den Gliedern wie ein abgeschalteter Roboter. Dann kippte er langsam und steif wie eine Puppe leicht nach vorn gegen die Truhe. Der Deckel knarrte und fiel ihm auf den Kopf. Es nützte nichts. Das Licht ging nach drei Minuten aus.
Es dauerte nur zwanzig Minuten, bis wieder Leben und Licht in die Dachkammer kam. Es gelang dem alten Tischler, langsam den Arm zu heben, um den Deckel hochzuschieben und sich die Beule am Kopf zu reiben. Beim Blick auf die Prothesen fiel ihm wieder ein, was er gesucht hatte. Gut, wenn es keinen Daumen gab, so mußte er einen besorgen. Ächzend stand er auf und fürchtete, es nicht bis zu seinem Sessel zu schaffen. Steifbeinig näherte er sich ihm, hob vor dem Sessel die Arme und stieß mit den Fäusten gegen die Vertäfelung der schrägen Wand. Eine der Holzplatten schwang auf. Otto Timbers Arm verschwand in der dunklen Höhlung und kam mit einem alten Säbel in der Hand zurück. Er lachte befreit. Es gab genug Daumen auf der Welt, die man sich nur zu holen brauchte. Er würde seinem Sohn einen neuen, besseren Daumen aussuchen. Der Säbel schien dem alten Tischler Kraft zu verleihen. Er öffnete seine Dachkammer und ging festen Schrittes die Treppe hinunter. Etwas, das er nach Auskunft des Arztes gar nicht mehr konnte.
Petra Timber saß auf der Fensterbank des geöffneten Küchenfensters, das Gewehr auf dem Schoß. Sie hatte alle Lichter gelöscht. Gerade jetzt, wo sie deutlich wie nie spürte, daß es um ihr Leben ging, war ihr Mann nicht da. Immer schon hatte sie ihre Existenz in Herzensach als bedroht angesehen und Thomas Timber als einzige Sicherheit. Alle drei Jahre wiederholte und verstärkte sich dieses Gefühl. Doch nun war es übermächtig geworden, und seit dem Leichenfund in der Wohnung des Studenten wußte sie, wer sie umbringen sollte. Natürlich hatte man einen Fremden engagiert. Man wollte sich nicht die Finger schmutzig machen. Aber sie war nicht wehrlos, sie hatte sich das Gewehr vom Wohnzimmerschrank geholt, es ausgepackt und durchgeladen. Jedes Jahr war sie damit heimlich in den Wald gegangen, um den Umgang mit der Waffe zu üben. Sie beugte sich aus dem Fenster. Sie hatte einen guten Blick über die Stelle, wo sich Dorfstraße und Cornelius-van-Grunten-Straße kreuzten. Beim nächsten Mal würde sie den Studenten treffen. Vor kurzem hatte sie ihn im Visier gehabt. Er war mit seinem Wagen vom Gutshof gekommen. Vor dem Tor war er ausgestiegen. Sie hatte gezögert zu schießen, weil sie sich nicht sicher war. Doch als er die Leiche aus dem Wagen holte, sich über die Schulter warf, da war sie sicher gewesen und hatte geschossen. Was für ein Glück für den Studenten, denn die Kugel war nur in die Leiche gedrungen. Der zweite Schuß ging ganz daneben. Ihre Hände hatten zu sehr gezittert.
Plötzlich hörte sie jemanden die Treppe im Haus heruntergehen. Wahrscheinlich war der Student über das Dach in ihre Wohnung eingestiegen. Sie richtete das Gewehr auf die Tür. Sollte er nur kommen! Doch die Schritte gingen vorbei, weiter nach unten. Wie gut, daß sie alle Lichter gelöscht hatte, so mußte der Student denken, sie sei nicht zu Hause. Triumphierend schwenkte sie die Waffe aus dem Fenster, richtete sie auf die Haustür. Er sollte nur kommen, diesmal würde sie nicht zögern. Sie bemerkte das Zittern des Laufes und stemmte sich mit dem Rücken gegen den Fensterrahmen. Unten wurde die Haustür vorsichtig geöffnet. Etwas schob sich heraus. Das Licht fing sich darin. Es war eine lange, blitzende Klinge. Er wollte sie also in Stücke hacken! Sie schoß und wußte im selben Augenblick, daß es nicht der Student war, der
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