Herzensach - Roman
Eine Wasserwüste legte sich als Leichentuch über die Erde. Speichel sprühte von seinen Lippen.
Doch seine Schäfchen, die sich sonst vor jedem Tropfen Nässe fürchteten, waren unzufrieden, muckten auf. Der Pastor spürte die Abneigung gegen seine Schilderung sofort. Es war ein Brummen über den Köpfen der Gemeinde, dem sich ein Zischen beimischte, und schließlich, zum Erstaunen aller, erhob sich einer und sagte klar und deutlich:
»Die Bibel, Pedus, was da drin steht, also das wissen wir doch heute, kann man ja überall in den Zeitschriften lesen, das ist doch gar nicht alles wahr. Also, ich meine, es ist doch nur ein bißchen wahr, oder so.«
Einige duckten sich jetzt erst recht aus Furcht vor dem Pfarrer, aber andere reckten sich stolz, nickten zustimmend. Der Mann blieb stehen, und Pedus' Gesicht überzog sich langsam mit einem breiten Grinsen. Er war vorbereitet. Er war gut vorbereitet. Schon lange, denn all die Jahre hatte er darauf gewartet, daß einer aufstand und widersprach, und nun war es geschehen. Es hatte nur an diesem Sonntag passieren können nach einer unruhigen Nacht und nach einem unordentlichen Beginn des siebten Wochentages, denn noch immer saß einer der Betrunkenen vor dem Gasthof auf einem Stuhl. Nicht einmal als die Glocken zu läuten begonnen hatten, war er aus seinem Suff erwacht. Und noch immer harrte seit gestern abend eine Gruppe im Gasthof aus und zechte weiter. Und zum ersten Mal seit vielen Jahren hatte sich Trivial nicht zum Gottesdienst eingefunden. Sonst schnüffelte er zu Beginn vor der Kirche die Straße auf und ab und setzte sich schließlich vor das Portal. Der Pastor war durch seine Messungen gewarnt. In aller Frühe hatte er die Instrumente abgelesen. Alle Anzeichen deuteten auf einen Ausbruch heidnischer Gewalt. Und nun fehlte auch noch Trivial.
Knurrend beugte er sich über die Brüstung der Kanzel, doch wieder krabbelte die Lungenmade in seiner Kehle herum, verhakte sich in den Stimmbändern. »Ich freue mich, daß es dir vollkommen egal ist, ob die Bibel wahr ist oder nicht«, brüllte er mit tiefer Stimme, doch schon der nächste Satz klang wie das Krächzen eines Raben: »Darin sind wir uns einig. Aber durch welches Buch sollen wir sie ersetzen? Ich meine, welches Buch sagt uns, wie wir mit unseren Nachbarn, mit unserer Familie zusammenleben sollen – oder wie wir zum Beispiel einen Fremden behandeln sollen. Oder wie man am besten mit Dieben, Mördern oder Huren umgeht.«
Der Pastor stieg mit einem langen Räuspern langsam von seiner Kanzel herunter. »Welches Buch hilft uns da weiter? Hä? Sollen wir gleich ein Märchenbuch nehmen, deiner Meinung nach, was?« tönte es mit glockenheller Mädchenstimme, und weiter im Baß: »Wenn wir in Not geraten, empfiehlt es uns zum Beispiel, unsere Kinder im Wald auszusetzen. Bei einer Hexe. Wie praktisch. Oder vielleicht ein Gesetzbuch statt der Bibel? Sicher, da steht ja drin, wie man mit einem mißratenen Sohn verfährt.« Der Rest war nur noch gehaucht. Bellend hustete er den Gemaßregelten an, der keine Anstalten machte, sich wieder zu setzen. Pedus versuchte ihn mit eiskaltem Blick aus seinem hochroten Hustengesicht dazu zu zwingen. »Du Dummkopf«, schnauzte er stimmbrüchig, »du kannst über den Ursprung der Bibel denken, wie du willst. Aber die Rolle, die sie in unserem Leben spielt, kannst du nicht in Frage stellen!« Auch wenn es vom ursprünglichen Konzept seiner Predigt wegführte, sponn Rudolf Pedus diesen neuen Faden weiter. Er hoffte, die Herzensacher die nächsten Tage gegenüber sich selbst und vor allem gegenüber Fremden friedlich zu stimmen, indem er sie über Regelungen des Zusammenlebens belehrte. Doch ein anderer nutzte die kleine Husten- und Räusperpause, um ihn zu unterbrechen.
»Wenn wir schon mal dabei sind, Pedus, dann sag mir mal, warum ein Mörder, der seine Tat bereut, in den Himmel kommt, aber ein Dieb, der, statt zu bereuen, das gestohlene Geld der Kirche spendet, in der Hölle schmort.«
Pedus stutzte, verstand nicht, worauf der Bauer hinauswollte. Es machte ihn noch wütender. »Was willst du«, schrie er ungewollt im Falsett, »mir von der Ungerechtigkeit der Welt erzählen und damit jede weitere Ungerechtigkeit entschuldigen? Wo willst du denn anfangen, die Welt zu ändern, wenn nicht bei dir?« Jetzt mußte die Made herausgehustet werden, wie auch immer. Er wandte sich ab, hustete, spuckte und scheuerte mit rauhem Atem und viel Speichel seine Luftröhre aus. Als er sich wieder
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