Herzensach - Roman
seine Beine zu bewegen. Er konnte sie nur schleifen lassen. Zum Glück schaffte es der Doktor ganz allein, ihn auf den Tisch zu heben. Jakob schämte sich, weil er ihm gar keine Hilfe war. Es gelang ihm nicht einmal, sich in die richtige Position zu legen. Der Doktor mußte ihn noch schieben und an ihm ziehen. Aber er tat es freundlich und mit viel Geduld.
»Oh, jetzt habe ich ein paar Fragen vergessen.« Doktor Andree lächelte gütig auf ihn herab. »Haben Sie Verwandte, die Sie vermissen könnten?«
»Ehn...ein.« Ein schwieriges Wort.
»Und weiß jemand, daß Sie hier bei mir sind?«
Jakob schüttelte den Kopf. Es ging – ganz langsam.
»Hat Sie niemand gesehen?«
»Ja, ja.«
»Wie sind Sie hereingekommen? Hat Mienchen Sie hereingelassen?«
Das Gesicht des Arztes verdüsterte sich.
»... ein, nein ... ür ... Tür.« Das Sprechen strengte ihn an. »Es ist gut. Ich werde Ihnen die Fragen so stellen, daß Sie nur mit Ja oder Nein antworten müssen.«
»Sie sind durch die Hintertür gekommen?«
»Ja.«
»Wollten Sie etwas Bestimmtes im Haus?«
»Nein.«
»War jemand bei Ihnen?«
»Nein.«
»War jemand in der Nähe?«
»Ja.«
»Hat er Sie geschickt?«
»Nein.«
»Waren Sie auf der Flucht.«
»Ja.«
»Aber derjenige oder die Leute, vor denen Sie sich verstecken, wissen die, daß Sie hier sind?«
»Nein, nein.«
Der Arzt schwieg, überlegte quälend lange, und Jakob versuchte nach seiner Hand zu greifen. Es war doch die Wahrheit. Er konnte doch nur die Wahrheit sagen.
»Nehmen Sie es mir nicht übel, aber ich möchte mich doch vergewissern.« Der Doktor wandte sich von ihm ab. Jakob bekam Angst, wieder von ihm verlassen zu werden. »Nein, ni...cht!« Panik stieg in ihm auf. Der Doktor durfte ihn jetzt nicht verlassen. Er würde vielleicht nicht mehr brauchbar sein, wenn er zurückkam. Vielleicht würde Doktor Andree es sich auch anders überlegen.
»Nein, nein – schnei – den – jet – zt!« Es konnte doch so viel dazwischenkommen.
Der Arzt nickte ihm freundlich zu, klopfte ihm mit der Hand auf die Brust. »Ich komme gleich zurück.«
47
Der Pfarrer brüllte bereits auf dem Weg zur Kanzel. »Glaubt ihr, Gott hat die Welt zu unserem Vergnügen erfunden? Nein, er hat sie zu seinem Vergnügen erfunden! Und wißt ihr wohl, was das letzte Mal passierte, als die Erde ihm kein Vergnügen mehr bereitete? Nein?« Er spürte, wie ihm ein kleiner Wurm von der Lunge aus in die Kehle kletterte, und versuchte ihn mit einem kurzen, scharfen Husten zu erschrecken.
Seine Gemeinde hatte verunsichert die Kirche betreten. Jetzt scharrten sie mit den Füßen, rutschten unruhig auf den Bänken hin und her. Alles war anders als sonst. Der Pastor war wütend. Es wurden keine Lieder angezeigt, es gab gar keine Gesangbücher, keine Orgelmusik.
Rudolf Pedus war oben auf seiner Kanzel angelangt. Er musterte die Versammlung. Leider fehlten viele und gerade auch jene, die er heute gern gesehen hätte. Zur Unterstützung. Der Gutsherr kam sowieso nie, aber wo blieben die Freunde? Wo war der Arzt? Und war der Förster nicht auch am frühen Morgen zurückgekehrt? Warum waren sie nicht gekommen? Spürten sie nicht, um was es ging? Nun, er würde es allein schaffen. Er mußte es schaffen, sonst würde es zu Mord und Totschlag kommen. Er bleckte die Zähne. Der Wurm war noch da, kroch am Ausgang der Luftröhre herum. Der Pfarrer knurrte: »Ihr habt die Wahl, entweder zu ersaufen oder zu den letzten Menschen zu gehören, die mit auf die Arche dürfen. So war es jedenfalls das letzte Mal. Ihr wißt es genau!«
Die rund vierzig Kirchenbesucher duckten sich unter der Wut des Pastors. Immer wenn Rudolf Pedus die Geschichte von der Sintflut und der Arche hervorholte, konnte er sich ungeteilter Aufmerksamkeit sicher sein. Es war eine der Bibelstellen, die den Herzensachern besonders einleuchteten. Und der Pastor hatte eine gewisse Meisterschaft in der Ausschmückung der Details erreicht. Der Sturm peitschte die eiskalten Wassermassen, Eisregen durchschlug jede rettende Planke, die Wellen brachen in der Finsternis über den Sündern zusammen. Doch an der dramatischsten Stelle seiner Schilderung vollführte seine Stimme einen steilen Tonanstieg und brach ab. Tonlos folgten noch zwei, drei Worte, dann verschloß sich seine Kehle. Und während er nach Luft rang, begann die Gemeinde unruhig zu werden, regte sich Unwille. Brüchig und schwach kehrte seine Stimme zurück, gewann mit dem Untergang der Welt neue, unverhoffte Kraft.
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