Herzensach - Roman
umdrehte, stand auch der zweite noch trotzig in seiner Bank. Der Pfarrer spürte noch immer ein Kribbeln in der Kehle und den Stachel des Widerstandes in der Menge. Doch beides trieb ihn zur Höchstleistung an. Er fand eine kräftige Stimme und einfache und großartige Worte dafür, daß Mord nur Mord gebiert, daß Raub nur Raub zeugt und Diebe auch nur wieder bestohlen werden. Seine ursprüngliche Predigt war vergessen, diese war besser und wirkungsvoller. Plötzlich bemerkte er, daß noch einer aufgestanden war. Er ignorierte ihn, denn bei diesem wichtigen Gedankengang, daß nur der beschenkt werde, der auch zu den Schenkenden gehöre, wollte er sich nicht unterbrechen lassen. Doch dann stand eine Frau auf, und ihre helle Stimme übertönte ihn. Es sei ja einzusehen, wenn ein Dieb befürchten müsse, bestohlen zu werden. So eine Tat sei folgerichtig, und man könne sich darauf einrichten, sich davor schützen und damit leben. Aber wo sei denn die Logik, wenn jemand freiwillig etwas abgebe, daß er dann angeblich auch etwas geschenkt bekomme? Das sei doch Unsinn. Von wem solle denn etwas kommen? Und sie frage ja nur, weil dem, der gibt, auch meist noch der Rest gestohlen wird. So sei die Regel. Der Pastor spürte ein neues Verhängnis in seiner Stimme. Auch diese Frau setzte sich nicht mehr und hörte sich mit verkniffenem Mund die leidenschaftliche Antwort des Pastors an. Er sprach von Kälte und Wärme, die man geben könne, und jeder wisse, es komme genau das auch zurück. Er bewies es mit einem Beispiel von Liebenden, doch plötzlich war er nicht mehr er selbst. Er war aus sich herausgetreten und beobachtete sich. Er sah, wie er mit großer Gestik durch den Mittelgang seiner Kirche ging, hörte sich von Liebe, Sehnsucht und Erlösung in der geifernden Tonart einer alten gebückten Frau reden, ohne noch zu erkennen, welchen Zusammenhang die Worte wirklich besaßen und warum sie in dieser Reihenfolge aus seinem Mund kamen. Und was bedeuteten seine theatralisch erhobenen Hände? Er überließ sich erneut einem klärenden Hustengewitter.
Immer mehr seiner Zuhörer standen auf, beugten sich vor und zeigten ihm ihre breite Stirn. Er sah an ihnen vorbei, hörte nicht auf ihr dumpfes Murren, wischte ihre Fragen mit Gesten beiseite und erhöhte, trotz der Enge seiner Kehle, seine Lautstärke. Es solle sich ja keiner hervorwagen, es sei denn, er wolle geschoren werden. Jetzt gelang es ihm, seine neuen Tonlagen und verwitterten Stimmbänder perfekt einzusetzen. Er stach, knurrte, schnitt, raspelte, fauchte, sprühte Feuer und stieß dunkle Wolken aus. Er eröffnete zwischen den Reihen der Kirchenbänke dunkle Abgründe, sprang über sie hinweg, öffnete die Fenster für schlammige Sturzfluten und schwamm auf ihrer Oberfläche zur Kanzel zurück. Von dorther schickte er Donner und heulende Stürme, ließ Blitze aus seinen Fäusten zucken, um sie im nächsten Moment zu öffnen und kleine bunte zwitschernde Vögel gegen den in allen Farben schimmernden Himmel flattern zu lassen. Er legte Teppiche von duftenden Blumenwiesen aus, riß sie mit einer Handbewegung auf, damit der braune Dung darunter hervorquellen konnte. Kleinere Kinder weinten, doch die Erwachsenen erhoben sich, einer nach dem anderen, standen stumm und mit verbissenen Gesichtern in ihren Bänken, wußten, daß sie sich notfalls gegenseitig an die Masten binden konnten, um Gott und den von Pastor Pedus entfesselten Gewalten zu trotzen. Sie hakten sich beieinander ein, bildeten einen festen Wall, der nicht wankte, weil er die Höhe der Flut kannte, weil er wußte, daß kein Orkan ewig anhält, daß auch dem Pastor einmal die Luft ausgehen würde. Rudolf Pedus sah die fest miteinander verhakte dunkle Masse von oben. Alle standen jetzt aufrecht, standen wie eine Mauer und schickten feindselige Blicke zur Kanzel hoch. Rudolf Pedus sah aber auch kleine Löcher, zarte Risse, da würde er jetzt den Meißel ansetzen, um zum letzten gewaltigen Schlag auszuholen: Ich bin es, der euch bricht! Er pflanzte ein winziges Stück Stille, sammelte noch einmal alle Kraft. Doch das kurze Atemholen genügte, und für Pedus war alles verloren. Scharfer Schleim schoß ihm die Speiseröhre hinauf. Der Magen verweigerte die weitere Annahme von abgehustetem Müll. Tränen traten ihm in die Augen.
»Dann beweis uns deinen Gott!« Die Aufforderung, von einem dünnen Mann zielsicher in die kleine Lücke gesteckt, sprengte die Versammlung. Alle wandten sich ab, redeten durcheinander und
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