Herzensach - Roman
senkte plötzlich den Kopf. War er traurig? Hatte Jakob ihn verstimmt? Hoffentlich nicht. Der Doktor sprach weiter, aber sah ihn nicht an. Wollte er ihn nicht mehr als Versuchsobjekt?
»Ich darf nicht zu diesen Kongressen fahren. Es ist absurd, aber ich gestehe, die großen Städte machen mir angst. Sie wollen mich nicht. Keine Zeitschrift hat meine Aufsätze veröffentlicht. Ich bin gefangen, hier in diesem Dorf. Das muß man sich mal vorstellen. Ein Gefangener!« Er schwieg einen Augenblick und legte seine Stirn in Falten.
»Ja, ja.« Jakob versuchte ihn aufzumuntern und voranzutreiben. »Ja, ja.«
»Aber vielleicht ist das gut so. Es ist gefährlich in den Städten. Sie müßten einmal meinen Freund, den Förster, hören. Sie kennen ihn doch? Johann Franke. Er fährt immer wieder in die Städte. Und mit was für entsetzlichen Nachrichten kommt er zurück. Immer weiß er von grundlosen Morden zu berichten. Auch harmlose Wissenschaftler werden ermordet. Erstochen. Erschlagen. Erschossen. Erwürgt. Entsetzlichen Taten. So etwas geschieht immer, ständig. Ich weiß genau, wenn ich das Dorf verlasse, passiert es mir. Johann Franke ist da anders. Der ist vollkommen anders. Aber wenn man Waffen zu bedienen weiß, macht das vielleicht mutig, man fühlt sich sicherer. Er kann schießen. Im Grunde tue ich genau das Gegenteil. Ich nähe. O nein, Johann Franke schießt nicht nur, er näht auch. Er spendet den Opfern Trost, also eher den Hinterbliebenen, das ist auch eine Art zu nähen, Wunden zu verschließen. Finden Sie nicht?«
Jakob hatte ihm nicht folgen können. Er war sprachlos und stieß nur einen stumpfen Laut aus, als hätte man ihm in den Bauch geboxt.
Der Doktor strich nachdenklich über das Stück gefrorenes Schweinefleisch und sah ihn freundlich an.
»Beim Nähen ist es schon etwas Besonderes, wenn man ein lebendes Objekt hat. Da zeigt sich erst, was die Technik wert ist. Es soll ja schneller zusammenwachsen. Das ist ja der Sinn. Man darf ihn nicht aus den Augen verlieren. Den Sinn.« Er lachte vergnügt. »Nicht nur, weil ich es dann schneller wieder aufschneiden kann, um eine neue Naht zu machen.«
Bernhard Andree hielt ihm das Fleisch mit der Naht unter die Augen. »Manche Leute würden den Unterschied zwischen meiner Nähweise und der groben vieler Chirurgen gar nicht sehen. Aber wer einmal operiert worden ist, der würde meine Technik schätzen. Und wissen Sie, wie ich darauf gekommen bin? Es ist eigentlich ein Witz: Ich habe immer eine kindliche Angst gehabt – ich sage es mal ganz direkt –, daß mein Körper platzt, also an irgendeiner Stelle aufreißt. Es kommt wohl von meinen Träumen. Darin ist es nämlich oft geschehen. Das ist nicht gut. Deshalb habe ich mich für das Nähen so sehr interessiert. Ich mußte mich ja auf irgendeine Weise vorbereiten. Dann erkannte ich, was für ein ungeheures Vergnügen es mir bereitete, mit einer Nadel in Fleisch zu stechen und einen Faden hindurchzuziehen. Doch, wenn diese, ich gestehe, etwas absurde Neigung nicht gewesen wäre, hätte ich niemals meine revolutionäre Technik entwickeln können. So kann eine simple Angst, ein schlechter Traum die Menschheit vorwärtsbringen. Ich will damit nur sagen, man sieht es einem Landarzt nicht unbedingt an, über welche Fähigkeiten er wirklich verfügt.«
»Ja, ja.«
»Ich erzähle Ihnen das alles nur, damit Sie sich vollkommen sicher fühlen. Nachdem ich Sie aufgeschnitten habe, wird alles schneller und besser zusammenwachsen. Sie werden überrascht sein, wie ausgezeichnet es heilt, fast vollkommen narbenlos.«
»Ja, ja.« Jakob hatte begierig zugehört, doch nun dauerte es ihm zu lange. Er wurde immer ungeduldiger. Er sehnte sich nach der Berührung mit dem Skalpell. Der Doktor sollte endlich mit der Operation beginnen. Er riß den Mund weit auf, um mal ein anderes Wort zu formulieren; vor Anstrengung traten ihm die Augen etwas hervor, und ein Schütteln ging durch seinen Körper, aber es gelang ihm, das Wort deutlich zu artikulieren: »Anfangen!«
Der Doktor lächelte milde. »Ich mußte Ihnen das alles erzählen. Es ist Vorschrift, damit Sie die Risiken einschätzen können – auch wenn Sie freiwillig zu mir kommen und sich selbstlos als Proband zur Verfügung stellen, muß ich Sie doch aufklären.«
»Ja, ja.«
»Kommen Sie, können Sie schon aufstehen? Ich sehe, es geht nicht. Ich helfe Ihnen.«
Der Arzt griff ihm unter die Achseln, führte ihn rückwärts bis zum Tisch, wobei Jakob vergebens versuchte,
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