Herzensach - Roman
rief sie.
Sie hörte ihn nicht.
Er ging ihr nach, doch plötzlich war sie verschwunden und das Geräusch ihrer Schritte verstummt. Sollte er ihr weiter nachgehen? Sie wollte nichts von ihm. Wieso lief sie im Kleid durch den Wald? Das war nicht normal. Suchte sie Trivial?
Was sollte er tun?
Er fand sie auf einer Lichtung. Sie hockte in dem hohen, weichen Gras, hatte die Arme vor ihrem Oberkörper fest verkreuzt und wiegte sich hin und her.
Er beugte sich zu ihr hinab.
Sie sah ihn nicht. Ihr Blick ging in die Ferne. Sie befand sich auf einer Reise – Jakob Finn erschrak über seinen Gedanken –, einer Reise, so weit weg, daß sie vielleicht niemals zurückkehren würde.
55
Sie hatte ihn erwartet, war deshalb schon um sechs Uhr morgens aufgestanden, doch diesmal war er noch früher gekommen. Als sie in die Küche hinunterkam, lagen da schon die Zeitungen. Immer brachte er die Zeitungen mit und legte sie ihr hin. Sie sollte sehen, was er angerichtet hatte. Sie ging in den Flur zur Garderobe, dann zum Waffenschrank. Er hatte seine Stadtkleidung gegen den Jagdanzug getauscht. Im Waffenschrank fehlte das leichte Jagdgewehr. Immer wenn er aus der Stadt zurückkam, verbrachte er gleich darauf einige Stunden im Wald. Sie hatte Angst, die Zeitungen zu lesen, schob sie zusammen und legte sie auf einen der Stühle am Küchentisch. Sie wollte nichts davon wissen.
Sie ging ins Badezimmer, duschte. Aber unter dem warmen Strahl packte sie die Wut. Sie wußte, sie mußte dem ein Ende machen. Es hatte keinen Sinn, die Zeitungen zu ignorieren. Je mehr sie verdrängte, um so schuldiger wurde sie. Es war schon genug geschehen. Aber wenn sie dem ein Ende setzte, würde das ganze Gebäude zusammenfallen. Für das Leben, das sie zu erwarten hatte, durfte sie vorweg ein kleines bißchen Rache üben: jenen Augenblick genießen, in dem sie sich lossagte, sich freisprach.
Sie zog sich an, ging zurück in die Küche, holte die Zeitungen hervor und überflog sie. Sie wußte sofort, um welches Ereignis es ging, und der Mut verließ sie wieder. Sie weinte. Dann schimpfte sie. Schließlich saß sie lange Zeit stumm und bewegungslos am Küchentisch, fragte sich immer aufs neue, warum er das getan hatte. Konnte er nicht wenigstens ihr zuliebe aufhören? Wie oft hatte sie ihn bedrängt? Nach jeder Rückkehr hatte er ihr versprochen, es sei das letzte Mal gewesen. Nun sei Schluß. Es war nicht Schluß. Er würde nie Schluß machen. Sie mußte es tun. Sie mußte Schluß machen.
Sie erhob sich langsam, verließ das Haus, zitterte in den warmen Sonnenstrahlen. Sie ging zurück, holte sich eine Jacke, setzte sich abermals an den Küchentisch. Es war zu früh, es würde ihr niemand aufmachen. Sie fror. Sie kochte sich Tee. Er wärmte sie nicht. Dann schleuderte sie die Zeitungen in eine Ecke und ging mit energischen Schritten wieder zur Tür. Doch draußen, im Licht, spürte sie, wieviel Mühe es sie kostete, sich aufrecht zu halten und nicht erneut in Tränen auszubrechen. Sie begann zur Straße zu marschieren, und der feste rhythmische Tritt gab ihr Kraft. Sie wußte, was sie zittern ließ, war nur die Angst vor ihrem eigenen Mut. Jeder Schritt machte ihren Körper unempfindlicher, härter und lenkte ihre Gedanken auf ein Ziel. Zuerst mußte die Erpressung ein Ende haben. Sie würde sich aus der Gewalt der beiden Frauen befreien. Sie sah deren Gesicht vor sich. Ha! Ein Triumph!
Sie bog in die Dorfstraße ein. Weit vorn, vor dem Gasthof, standen ein paar Männer. Sie fürchtete sich nicht mehr. Von diesem Tag an würde sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Niemand konnte mehr über sie bestimmen. Und koste es das Leben.
Sie bog von der Dorfstraße ab und marschierte auf Sabine Webers Haus zu. Sie klingelte nicht und klopfte nicht. Die Tür war offen. Sie trat ein, ging den Flur entlang, vorbei an dem offenen Ausstellungsraum, folgte den Geräuschen und erreichte die Küche.
Sabine Weber drehte sich erstaunt um. »Claudia?«
Die Tochter des Försters sah ihr nicht in die Augen, sondern ließ ihren Blick über die Küchenmöbel gleiten. Wenn dort ein großes Messer gelegen hätte, jetzt war genug Kraft in ihr, um es zu nehmen und dieser verhaßten Frau in die Brust zu stoßen.
Die Frau des Schlachters überspielte ihre Irritation mit besonderer Liebenswürdigkeit. »Setz dich doch. Hast du Sorgen? Du möchtest bestimmt einen Kaffee mit mir trinken. Ich habe noch Kuchen von gestern. Ich hole ihn dir gern. Oder möchtest du etwas
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